05.07.2025

Das Rätsel der verschwundenen Theaterfrau

Jürgen Baumgarten

„Emsland zuerst!“, prangt auf dem Aufkleber. Provokantes Preu­ßischblau auf Pastellgelb. Das haben sie mir in der Nacht auf den Lenker geklebt, die ELZ-Idioten. Gut sichtbar, sodass ich Werbung für ihren Terrorklub fahre.

Keine Zeit, das abzupulen, die Chefin wartet. Ein Heftpflaster drüber. Muss genügen.

Mein Puls rast. Was für ein Stress! Brausepulver! Tüte aufreißen. Schlecken.

Ich muss runterkommen von dem Zeug.

Ich steige auf meine Molli. Sie hat den dritten Akku, aber ist nach wie vor zuverlässig. 2024er E-Scooter. So eine Qualität wird heut­zutage gar nicht mehr hergestellt.

Die Lingener Polizeichefin hat ihr Büro in einer Gasse nahe dem Rathaus. Früher war hier ein Modegeschäft. Als die Klamotten noch nicht aus dem heimischen Drucker kamen. Das Glöckchen an der Eingangstür hat man hängen lassen. So wird es fröhlicher, sich mit Verbrechen zu beschäftigen.

An der Rezeption lächelt mir ein KI-Gesicht entgegen, von einem altertümlichen 4K-Monitor. Zig tote Pixel lassen es wirken, als schaue man durch eine Windschutzscheibe die mit Fruchtfliegen verklebt ist.

„Guten Tag“, sagt die KI knarzend. „Wen darf ich melden?“

Die Gesichtserkennung ist auch unter aller Kanone.

„Bang“, sage ich. „Jost Bang. Sonderermittler. Dienstnummer EL 4789.“

„Schön, Sie wiederzusehen, Herr Bang.“ Immerhin funktioniert der Zugriff auf die Datenbank noch. „Frau Sentersen erwartet Sie bereits.“

Im Dienstzimmer der Sentersen herrscht Halbdunkel. Sie hat em­pfindliche Augen, seit ihr ein Flüchtiger Sprühsahne ins Gesicht ge­spritzt hat. Das Trauma sitzt tief. Bis heute meidet sie Torten und Eiscafés. Aber der Einsatz hat sie auf diesen Posten gehievt.

„Sie sind spät, Bang“, sagt sie mit ihrer Kanarienvogelstimme. „Was wissen Sie über Emma Vienen?“

Jeder in Lingen kennt Emma Vienen. „Theaterpädagogin. Trägerin der Norbert-Radermacher-Medaille. Mitte vierzig. Leitet seit einem Jahr das TPZ.“

„Und sie wird seit gestern vermisst.“

„Verdammt!“ Übermorgen beginnt das Welt-Kindertheater-Festival. Wenn dort die Chefin des TPZ fehlt, führt das zu großer Verunsicherung in der Bevölkerung. Wie bei der Panne bei der Wetterkontrolle, durch die das letzte Kivelings-Fest ins Wasser gefallen ist. Kinder weinen. Chaos auf den Straßen. Börsenkurse stürzen.

„Weiß man Näheres?“

„Nein. Vienens Stellvertreter hält die Sache unter Verschluss. Mit ihm reden Sie zuerst.“

Das Professorenhaus ist nur ein paar Straßen entfernt. Das Thea­terpädagogischen Zentrum hat seinen Sitz hier nur noch aus Tra­dition. Übungsräume und alles andere sind ausgelagert. Gut. Wären hier Kinder, könnte meine Allergie durchschlagen. Von Vorpuber­tierenden bekomme ich immer Pusteln.

Der TPZ-Vize erwartet mich draußen auf der Treppenempore. „Kilian Dörfer“, stellt er sich vor. Ein gedrungenes Männchen von circa fünfunddreißg Jahren, ultramodern im beigen Cord-Anzug mit grüner Krawatte. Alles echt Textil, nichts gedruckt. Teuer, teuer. Seine Haare grau gebleicht und wuschelig, wie aus einer Lifestyle-App. „Bitte, kommen Sie herein.“

Eine Toilettenspülung rauscht. Eine Frau huscht über den Flur, winkt einen „mir geht es gerade nicht gut“ - Gruß und verschwindet in einem Büro.

Mir klappt die Kinnlade hinunter. Das war Emma Vienen!

Dörfer bedeutet mir zu schweigen. In seinem Büro atmet er durch. „Das eben war ein Androide. Wir hatten Emmas Gesicht noch von einem Faschings-Scherz. Sie huscht jetzt ab und zu über den Gang, damit sie niemand vermisst. Also, der Androide huscht. Und ihre Empfangs-KI sagt allen, dass Emma heute Magenverstimmung hat und nicht gestört werden will.“

Was ist besorgniserregender: Dass ich auf einen Androiden hereinfalle, oder dass eine KI rotzfrech lügt?

„Was wissen Sie über das Verschwinden von Frau Vienen?“

„Nichts. Sie ist einfach weg. Kein Erpresserschreiben.“

„Sie denken, man hat sie entführt?“

„Das liegt doch auf der Hand!“

„Wer? Und warum?“

„Wegen des Festivals! Kinder aus aller Welt kommen nach Lingen. Und wem ist das wohl ein Dorn im Auge? Wer macht schon einen Aufstand, wenn es einen Schüleraustausch mit Ostfriesland gibt?“

„Emsland Zuerst.“

„Genau die!“ Dörfer sinkt matt auf seinen Bürostuhl. „Die ELZ ist zu allem fähig.“

Ich denke an das Klebe-Attentat auf meine Molli und stimme ihm innerlich zu.

„Haben Sie mehr als nur eine Vermutung?“

„Oh ja!“ Er zückt sein Handy, zeigt mir ein Video. „Vor vier Tagen aufgenommen.“

Vienen streitet mit einem Mann. Kein Wort zu verstehen, Musik und Stimmen übertönen alles. Geld für Mode hat Dörfer, aber kann sich kein Handy mit Richtmikrofon leisten? Ich setze ihn auf die Liste der Verdächtigen.

„Erkennen Sie, mit wem sie spricht?“

Wie könnte ich nicht? Es ist Enno-Leon Zick, Vorsitzender der Lokalen Union, dem parlamentarischen Arm von „Emsland Zuerst“. Was natürlich beide dementieren.

„Worum ging es in dem Streit?“

„Emma wollte es mir nicht verraten.“

„Es kann also harmlos sein.“

„Harmlos“, brummt er. „Warten Sie mal ab.“ Er deutet auf das Video. „Achtung: jetzt!“

Zick zeigt Emma den kleinen Finger.

Ich schnappe nach Luft. Den kleinen Finger!

Dörfer legt das Handy weg. „Verstehen Sie jetzt, warum ich beunruhigt bin?“

„Natürlich. Ja.“ Ich muss mich setzen. Meine Hände zittern. Ich zücke eine Tüte Brausepulver. „Darf ich hier …?“

„Natürlich.“ Dörfer blickt diskret zur Seite, während ich schlecke.

„Was werden Sie jetzt tun, Herr Bang?“

„Ich statte Enno Zick einen Besuch ab.“

Die Lokale Union hat ihr Parteibüro im Ortsteil Darme. Zwei Androiden stehen am Eingang. Sie tragen keine Kleidung. Dass alle technischen Komponenten sichtbar sind, lässt sie unnahbar wirken, genau wie ihre ausdruckslosen, völlig identischen Gesichter.

„Sonderermittler Jost Bang“, sagt einer der Zwillinge. „Sie möchten Herrn Zick sprechen. In Sachen Emma Vienen.“ Keine Frage. Eine Feststellung. „Herr Zick erwartet Sie. Aufzug. Oberste Etage.“

Ein dritter Androide mit identischem Gesicht wartet oben. Er begleitet mich, klärt mich darüber auf, welche Rechte Herr Zick hat, und welche ich nicht habe. Er redet noch steifer, als sein Kollege unten. Vermutlich ist dieser hier direkt mit einer Anwalts-KI vernetzt.

Enno-Leon Zick empfängt mich mit ausgestreckter Rechten. Ich bin überrumpelt und greife zu. Er steckt seine Hand in den Desinfizierer, bietet mir das Gerät jedoch nicht an.

Oh, ein Machtspielchen. Na warte! Ich unterdrücke den Drang, mir die Hand an der Hose abzuwischen, und stütze mich demonstrativ auf seiner Mahagoni-Platte ab.

„Schöne Einrichtung“, sage ich. Er schaut schnell hoch und lächelt, aber ich sehe seine Verunsicherung. Er wird versuchen, nicht auf den feucht-fettigen Abdruck meiner Hand zu blicken. Und ich werde mit Genuss jeden Impuls zählen, den er nicht unterdrücken kann.

Er prahlt mit seinen Möbeln, dem Teppich, den Gemälden. Schaut dabei drei Mal auf den Fleck. Hab dich!

„Sie sind Holländer?“, fragt er.

„Niederländer. Ist das ein Problem?“

„Nein, nein.“ Er gibt mir die nächste Gelegenheit zum Zählen.

Vier.

„Ja, ich hatte eine Auseinandersetzung mit Frau Vienen. Und ich habe eine obszöne Geste gezeigt, das gebe ich zu.“

Fünf.

„Es ging um die Interpretation des „Schimmelreiters“ von einer der TPZ-Gruppen. Das war mir zu mechanisch. Zu wenig menschlich. Als ob Androiden auf der Bühne stehen würden.“ Er schüttelt sich.

Sechs.

„Also war das nur …?“

„Ein künstlerischer Disput, ja!“

Sieben.

„Mit wem Sie sich beschäftigen sollten, das ist die Himmels-Werft.“

Ich hebe die Augenbrauen. „Die aus Papenburg?“

Er schnauft verächtlich. „Kennen Sie noch eine andere?“

„Worauf wollen Sie hinaus?“

„Die Himmels-Werft ist groß im Raumschiff-Bau.“

„Das ist mir bekannt.“

„Ist Ihnen auch bekannt, wer Himmels größter Konkurrent ist? LST!“

„Das Lingener Space Team?“

„Das hätten Sie nicht gedacht, was? Ja, wir Emsländer sind dabei, die Papenburger zu schlagen. In ihrem Kerngeschäft!“ Er redet sich in Rage. „Die natürliche Überlegenheit des Emsländers über den Papenburger zeigt sich deutlich! Emsland zuerst!“

Seine Hand zuckt vor die Stirn zum Emsländischen Gruß.

Der Android stellt sich neben Zick. „Der Ausruf sowie die Geste sind ironisch zu verstehen. Herr Zick steht in keiner Verbindung zur ELZ.“

Klar doch. Wer's glaubt ...

Zick hat sich wieder im Griff. „Ähm, das Space Team droht jedenfalls der Himmels-Werft wichtige Aufträge abzuluchsen. Was denken Sie, wie die Papenburger reagieren?“

„Die sind vermutlich sauer.“

„Und hätten gerne ein Druckmittel gegen LST. Und wer ist die Chefin der LST?“

„Clara Vienen. Die Mutter von Emma Vienen.“

„Vielleicht fragen Sie dort nach, ob sie womöglich erpresst wird.“

Er nimmt eine Dose, zieht eine Tüte Brausepulver heraus, reißt sie auf, schleckt. Waldmeister. Will wohl zeigen, dass er zu den ganz Harten gehört. „Sie auch eine?“ Er hält mir die Dose hin.

Ich nehme drei. „Für später.“

Und da ist Nummer acht.

Ich verabschiede mich und gehe. Ich höre, wie Zick aufspringt und Desinfektionsmittel auf die Schreibtischplatte sprüht.

Clara Vienen wohnt in Laxten. Stattliche Villa. Üppige, klimaresistente Begrünung. Rasen mit Bewässerung. Hier mangelt es nicht an Geld.

Sie öffnet mir persönlich die Tür. Ich stelle mich vor.

„Sagen Sie nichts weiter.“ Die Frau seufzt. „Folgen Sie mir.“

Es geht eine geschwungene Treppe hinauf, das Geländer mit Schnitzereien verziert. Durch die Tür, die mir Frau Vienen öffnet, blicke ich in das Zimmer einer Jugendlichen. Poster von Musik­gruppen der frühen 2030er, ein plüschiges Himmelbett, darin riesige Kuscheltiere. Und Emma Vienen.

„Sie hat vorgestern die Kindergruppe aus Japan begrüßt. Seitdem hat sie … Sie sehen es ja.“

Ich sehe es. Dicke roten Pusteln im Gesicht, die Lippen grotesk geschwollen.

„Gegen deutsche Kinder ist sie nicht allergisch. Deshalb sind wir natürlich überrascht.“

Emma schaut mich mit verweinten Augen an. Trotz ihres Alters wirkt sie kein bisschen deplatziert zwischen den Teddy-Gesichtern.

„Was, wenn sie auch gegen Kanadier allergisch ist? Oder Peruaner?“

Sie tut mir leid.

„Ich habe eine Idee“, sage ich.

Wie erwartet bemerkt niemand, dass ein Androide die Eröffnungsrede hält.

Fall gelöst, Situation gerettet. Jost Bang, stets zu Diensten.

 

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Jürgen Baumgarten

geboren 1964, Autor von Theater­stücken. „Das erste Mal“ wurde 2001 als bestens Jugendstück beim Autorenwettbewerb des Bun­des Deutscher Amateurtheater aus­ge­zeichnet. Den Publikumspreis ergat­terte ich 2012 für „Feenzauber“ beim Kurzdramen-Contest „Salz 2“ des Theater Lüneburg.

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