05.07.2025

Der 21. Geburtstag

Renate Kaiser

„Herzlich Willkommen bei Tintenträume. Mein Name ist Pia Sterkenbach, ich bin Buchautorin und Schreibtrainerin und freue mich darauf, Sie in den kommenden sechs Wochen hier in meinen Räumen zum Seminar ‚Entdecke die Magie des Schreibens‘ begrüßen zu dürfen. Bevor wir anfangen, bitte ich Sie, sich alle kurz vorzus­tellen. Möchten Sie anfangen?“ Pia schaute zu Regina. Reginas Herz schlug bis zum Hals.

„Ja, also, mein Name ist Regina Akkermann, ich bin achtzig Jahre alt. Früher habe ich gerne Geschichten für meine Tochter Andrea ge­schrieben. Sie hat mir diesen Schreibkurs zum Geburtstag ge­schenkt.”

„Ganz lieben Dank Frau Akkermann. Dann machen wir im Uhr­zeigersinn weiter.” Bei der Vorstellung der anderen Kursteil­nehme­rinnen rutschte Regina immer tiefer in den Stuhl.

„Schreibe schon seit zehn Jahren in einer Autorengruppe”, sagte eine rothaarige Frau.

„Habe schon mehrere Kurzgeschichten-Wettbewerbe gewonnen”, erklärte eine Frau mit brauner Hornbrille.

„Schreibe gerade meinen ersten Roman”, sagte eine andere Frau.

Oje! Alle haben viel mehr Erfahrung als ich. Andrea hat es gut gemeint mit dem Geschenk. Ob ich hier richtig bin?, dachte Regina.

Pia Sterkenbach stand auf und deutete auf einen großen Tisch.

„Starten wir mit unserer ersten Übung. In diesem Jahr findet hier in Lingen ein Schreibwettbewerb statt mit dem Thema: ‚Es geschah in Lingen’. Ich habe Ihnen zahlreiche Fotos von Lingen und Zei­tungsausschnitte aus vergangenen Jahrzehnten mitgebracht. Lassen Sie sich inspirieren zu Ihrer Lingen-Geschichte. Erlaubt ist, was gefällt.”

Regina stand vor dem Tisch. Ihr Blick fiel auf eine Gruppe von jungen Männern, die vor einer Lokomotive standen. „Zwangsarbeiter unterstützen tatkräftig im Reichsbahnausbesserungswerk…”, las sie. Mit zittrigen Fingern griff sie den Zeitungsartikel.

 

  1. Mai 1965

„Liebe Regina, wir wünschen dir alles Gute zu deinem einund­zwan­zigsten Ge­burtstag!”

Papa gibt mir einen Kuss auf die Wange. Mama, hinter ihm, wartet schon ungeduldig.

„Alles Gute, mein Augenstern”, sagt sie.

Papa überreicht mir ein rechteckiges Päckchen.

Ungeduldig reiße ich das geblümte Geschenkpapier auf und ziehe eine braune Schmuckschatulle heraus. Darin liegt eine goldene Uhr, die mit Diamanten besetzt ist.

„Die ist ja wunderschön! Vielen, vielen Dank!” Ich umarme die beiden.

„Die hast du dir wirklich verdient. Bist ein prima Mädchen, fleißig und strebsam, du machst uns sehr viel Freude. Erst dein Einser-Abitur und jetzt die Lehre in der Bank”, sagt Mama.

„Ja, ich komme ganz nach Papa”, antworte ich. Sein Lächeln erstirbt.

„Regina, bevor wir Kaffee trinken und du deinen Frankfurter Kranz genießen darfst, möchten wir dir noch etwas sagen”, beginnt Mama und schaut Papa hilfesuchend an.

Papa räuspert sich.

„Also, es ist so. Wir haben lange überlegt, wie wir es dir sagen sollen. Regina, wir sind nicht deine leiblichen Eltern. Wir haben dich adoptiert, als du ein Säugling warst”, beginnt er.

„Nein, Papa, das ist nicht wahr!” Ich schlage mir die Hände vors Gesicht und habe das Gefühl, dass mein Herz explodiert.

„Doch, Regina. Es stimmt”, entgegnet er tonlos.

„Du warst so ein niedliches kleines Mädchen, mit deinen blonden, zarten Löckchen und deinen blauen Augen. Papa und ich konnten ja leider keine eigenen Kinder bekommen”, erklärt Mama und setzt sich auf die Lehne meines Sessels. Sie legt den Arm und meine Schultern. Nein, ich möchte nicht, dass sie mich jetzt berührt!

Die Gedanken rasen in meinem Kopf. Mir ist schwindelig, mir ist schlecht. Ruckartig springe ich auf und renne zur Toilette. Ich knalle die Tür hinter mir zu, lasse mich auf die Knie fallen, als der erste Schwall Erbrochenes aus mir herausschießt.

„Regina, kann ich dir helfen?” Mamas Stimme, direkt hinter der Toilettentür.

„Nein, lass mich!” Mamas Schritte entfernen sich.

Aus dem Esszimmer höre ich ihr leises Stimmengemurmel.

Mama und Papa sind sie ja gar nicht! Fremde Menschen haben mich großgezogen, mich gefüttert, mir vorgelesen, mir das Laufen und Sprechen beigebracht und mir einundzwanzig Jahre lang vorgespielt, dass sie meine Eltern sind. Ich schaue auf meine neue Armbanduhr. Am liebsten würde ich sie in die Toilette werfen und meinem Erbro­chenen hinterher spülen.

 

Regina drückte die Kappe auf ihren Füller. Der Kloß in ihrem Hals kratzte. Sie kramte aus ihrer Handtasche ein Päckchen Papierta­schen­tücher hervor.

„Ich müsste mal eben zur Toilette”, sagte sie, drängte ihre Tränen zurück in den Hals.

Pia Sterkenbach schaute von ihrem Buch auf.

„Selbstverständlich, Frau Akkermann. Wenn Sie rausgehen, zweite Tür rechts. Ist alles in Ordnung bei Ihnen?”

Regina nickte. „Ja, es ist alles gut. Ich möchte nur kurz alleine sein”, sagte sie und schloss die Tür hinter sich. Als sie den Kursraum verließ, rannen erste Tränen über ihre Wangen. Sie verriegelte die Tür, schlug sich die Hände vors Gesicht und schluchzte laut. Das Bild der Männer vor der Lokomotive. Plötzlich war alles wieder da.  

Pia Sterkenbach schaute zur Tür. Ob sie Regina Akkermann zur Toilette folgen sollte? Vielleicht brauchte sie Hilfe. Was sie wohl schreibt? Hoffentlich geht es ihr gesundheitlich gut. Sie sagte doch, dass sie schon achtzig Jahre alt ist. Wenn sie in fünf Minuten nicht hier ist, werde ich nach ihr schauen, nahm sie sich vor.

Regina stand vor dem Waschbecken und trocknete ihre Tränen.

Jeder wird sehen, dass ich geweint habe, dachte sie und be­trachtete ihr gerötetes Gesicht. Als Regina die Tür des Kursraums öffnete, waren alle vertieft in ihre Geschichten und nahmen keine Notiz von ihr. Pia Sterkenbach sah sie fragend an. Regina nickte ihr zu, lächelte zaghaft und setzte sich an ihren Platz. Sie zog ihre Wasserflasche aus der Tasche, spülte das pelzige Gefühl im Hals weg und griff nach ihrem Füller.  

 

Eine halbe Stunde starre ich die lindgrüne Wand im Gäste-WC an. Ich stehe auf und gehe ins Esszimmer zurück. Mama und Papa - nein, meine Adoptiveltern - sitzen steif am Tisch.

„Möchtest du jetzt ein Stück von deinem Geburtstagskuchen?”, fragt meine Adoptivmutter.

„Nein, ich habe mich gerade übergeben. Mir ist der Appetit vergangen”, sage ich.

„Regina, du hast keinen Grund, respektlos zu deiner Mutter zu sein!”

Ich springe auf, mein Stuhl fällt zu Boden.

„Das sagt der Mann, der mir nach einundzwanzig Jahren erklärt, dass ich nicht sein leibliches Kind bin?!”

Meine Adoptivmutter schiebt ihren Stuhl zurück und kommt auf mich zu.

„Regina, wir haben es doch nur gut gemeint. Wir wollten warten, bis du erwachsen bist”, erklärt sie.

„Meine Welt versinkt gerade in Trümmern!!!”, schreie ich die beiden an. Ich spüre einen dumpfen Schmerz und sinke zu Boden. Als ich aufwache, ist es draußen schon dunkel.

Mama sitzt an meinem Bett und sagt: „Regina, endlich bist du wach. Der Arzt hat dir eine Beruhigungsspritze gegeben, danach hast du 16 Stunden geschlafen.”

„Lass mich bitte alleine”, sage ich. Nachdem sie weg ist, stehe ich auf, ziehe mich an und gehe die Treppen nach unten. Dann reiße ich die Esszimmertür auf.

„Ich möchte, dass ihr mir sofort die Adoptionsunterlagen aushän­digt. Ich muss wissen, wer meine leiblichen Eltern sind”, sage ich.

Mein Adoptivvater steht auf und öffnet den Tresor, der im Inneren des Wohnzimmerschranks versteckt ist. Er öffnet eine Ledermappe, auf der in Goldlettern „Stammbuch der Familie“ steht und überreicht mir einen braunen Umschlag.

„Hier sind beglaubigte Abschriften von allen Adoptionspapieren. Ich habe alles für dich vorbereitet”, sagt er.

Ich renne zurück in mein Zimmer und schließe die Tür ab. Meine Hände zittern. Ich atme tief ein und reiße den Umschlag auf:

 

leibliche Mutter: Caroline Müller, geb. 02.02.1927, Küchenhilfe wohnhaft in Lingen/Ems

leiblicher Vater: Herrmann Schneider, geb. 28.09.1924, Lingen/Ems, Gefreiter, gefallen für Volk und Vaterland, 15. Januar 1944, Leningrad

Geburtsort: Lebensbornheim Schloss Hohehorst bei Schwane­wede

Geburtsdatum: 17.05.1944

Adoptionsdatum: 01.06.1944

Vater: Karl Thomas Klein, 21.04.1916, SS-Oberscharführer, Köln

Mutter: Helene Klein, geb. Sander, 30.11.1922, Hausfrau, Köln

 

Eine Stunde später stehe ich mit meinem gepackten Koffer im Flur, in meiner Handtasche liegen mein Sparbuch mit 2000 DM und mein Personalausweis.

„Ich verbiete dir, dass du jetzt nach Lingen fährst!”, brüllt mein Adoptivvater.

„Regina, so nimm doch Vernunft an!”, fleht meine Adoptivmutter.

„Ich fahre jetzt sofort. Nichts und niemand hält mich hier bei euch. Und versuch nicht, mich aufzuhalten, Herr Oberscharführer! Das wissen deine Kollegen in der Bank sicher nicht!”, schreie ich zurück.

 

„Kommen wir für heute bitte zum Schluss mit dem Schreiben und beginnen mit dem Vorlesen. Ich bin schon sehr gespannt auf Ihren Einstieg in Ihre Lingen-Geschichte. Möchte jemand beginnen mit dem Vorlesen?”

Reginas Arm zeigte nach oben.

„Frau Akkermann, sehr gerne! Fangen Sie bitte an.” Regina räus­perte sich. Sprich langsam und deutlich, du schaffst das, motivierte sie sich und begann zu lesen.

 

„...Ich fahre jetzt sofort. Nichts und niemand hält mich hier bei euch. Und versuch nicht, mich aufzuhalten, Herr Oberscharführer! Das wissen deine Kollegen in der Bank sicher nicht”, schreie ich zurück.“

Regina schloss ihre Kladde.

„Das ist meine Geschichte”, sagte sie und atmete tief durch.

„Das ist ja schrecklich, was Ihnen passiert ist. Es tut mir unendlich leid für Sie”, sagte eine der Kursteilnehmerinnen.

„Möchten Sie uns erzählen, wie Ihre Geschichte weiterging? Sind Sie sofort nach Lingen gefahren?”, fragte die rothaarige Dame. Pia Sterkenbach schaute Regina besorgt an.

„Ist das in Ordnung für Sie, Frau Akkermann?” Regina nickte.

 

„Ja, noch am selben Tag. Da meine leibliche Mutter katholisch war, habe ich mich an den Pfarrer von St. Bonifatius gewandt und ihm meine Geschichte erzählt. Er hatte meine Mutter tatsächlich ge­kannt, hatte ihr und ihrer Schwester Hildegard die erste heilige Kom­m­union erteilt. Er nannte mir die Adresse von Mamas Schwester Hildegard. Sie lebte damals in Altenlingen. Eine Stunde später stand ich vor Tante Hildegards Haus. Ich war so aufgeregt. Eine blonde Frau mit karierter Kittelschürze öffnete mir die Tür. Sie musterte mich irritiert, schlug im selben Moment die Hände vors Gesicht und brach in Tränen aus.

„Oh mein Gott, du siehst aus wie Caroline”, sagte sie und strei­chelte mir über die Wange. Bei einem Tee erzählte sie mir von meiner Mama. Alle hatten sie sehr gemocht, weil sie so einfühlsam und hilfsbereit war. Tante Hildegard stand auf und verschwand in einem anderen Raum. Als sie zurückkam, hielt sie einen weißen Umschlag in der Hand und sagte: „Dieser Brief ist für dich, deine Mama wusste, dass du irgendwann kommst.“

 

„Lingen, 17.05.1948

Mein liebes kleines Mädchen,

heute wirst du schon vier Jahre alt, und kein Tag vergeht, an dem ich nicht an dich denke. Ich frage mich, wie du wohl aussiehst? Hast du auch blonde Haare und so wunderschöne blaue Augen wie dein Papa?

Wenn du diesen Brief liest, bist du schon eine erwachsene Frau. Ich weiß, du bist wütend auf mich und fragst dich, warum ich dich im Stich gelassen habe. Glaube mir, ich bereue meine Entscheidung jeden Tag. Damals, als du geboren wurdest, dachte ich, es gibt keinen anderen Weg. Heute sehe ich das anders. Aber nun lebst du irgendwo in Deutschland mit deinen neuen Eltern, und ich werde dich niemals kennenlernen.

Ich möchte dir nun erzählen, wie alles begann, und ich wünsche mir so sehr, dass du mich ein kleines bisschen verstehen kannst.  

Als ich siebzehn Jahre alt war, arbeitete ich als Hilfskraft in der Küche des Reichsbahnausbesserungswerks in Lingen. Jeden Tag kochten wir in riesigen Bottichen Eintopf für die Zwangsarbeiter, die im Werk der Reichsbahn die Lokomotiven reparierten. Eines Tages, als eine der Frauen an der Essensausgabe krank war, musste ich einspringen.  Die Zwangsarbeiter standen in einer langen Reihe, jeder hielt seinen Blechnapf in der Hand. Plötzlich strahlten mich zwei meeresblaue Augen an.

‚Hallo, hübsches Meisje (das heißt Mädchen auf Holländisch). Kannst du jetzt immer komme?‘, fragte der Mann und lachte. Es war Liebe auf den ersten Blick. Henk war der schönste Mann, den ich je gesehen habe. Er war groß, kräftig gebaut und hatte den Kopf voller blonder Locken. Am nächsten Tag steckte er mir einen kleinen Zettel zu, auf dem stand: ‚Ich warte heute um 17 Uhr hinter dem großen Eingangstor.’

Meine Knie waren wie Wackelpudding, als ich ihn nachmittags dort gesehen habe. Wir sind zur Ems spaziert, haben uns unterhalten und es hat sich so gut angefühlt. Trotzdem hatte ich Angst, dass uns jemand erkennt. Schließlich war der Kontakt zwischen deutschen Mädchen und Zwangsarbeitern verboten. Henk hat mir von seiner Familie in Nordholland erzählt. Beim dritten Treffen hat er mich geküsst und seitdem schwebte ich auf Wolke sieben. Alles fühlte sich plötzlich so leicht an. Wir haben uns jeden Tag getroffen. Eines Nachmittags im Hochsommer hat er mich mit einer Decke und einem Korb erwartet. Wir sind zu einer versteckten Lichtung am Wäldchen an der Ems gegangen. Wir haben uns auf die Decke gesetzt, Henk hat den süßen Wein aus dem Korb geholt, und an diesem Tag haben wir uns zum ersten Mal geliebt.

Kurze Zeit später blieb meine Periode aus. Ich habe jeden Tag gewartet. Nach einem weiteren Monat wusste ich, dass ich schwan­ger bin. Ich hatte furchtbare Angst und hoffte, dass es niemand bemerkt. Henk hat vor Freude geweint.

‚Wir bekomme eine Kind‘, sagte er in seinem süßen holländischen Deutsch.

‚Das wird ganz schön schwierig, aber wir schaffe das zusamme.‘ Zum Glück konnte ich meinen wachsenden Bauch unter weiten Röcken verstecken. Als ich im sechsten Monat war, ist meine Mutter in mein Zimmer geplatzt, während ich mich umgezogen habe.

Sie hat mir eine Ohrfeige gegeben und geschrien: ‚Du Flittchen, wer hat dir dieses Kind angedreht?‘

Vater ist hereingestürmt und hat mich beschimpft: ‚Du hast Schande über unsere Familie gebracht! Sag mir sofort, wem du dich an den Hals geworfen hast!‘ Ich habe geschwiegen, denn ich wusste, dass Henk sofort verhaftet würde.

Am nächsten Morgen hat meine Mutter meine Zimmertür aufge­rissen und gesagt: ‚Zieh dich an, du fährst noch heute mit dem Zug nach Bremen. Papa begleitet dich. Im Schloss Hohehorst in Schwa­newede kannst du dein Kind zur Welt bringen. Und merke dir das jetzt gut: Der Vater deines Kindes ist der Herrmann Klein aus der Josefstraße. Er ist vor ein paar Wochen in der Schlacht um Leningrad gefallen. Hörst du? Herrmann ist der Vater und ihr wolltet heiraten, wenn er auf Heimaturlaub kommt!‘

Mein Vater hat mich zum Lebensbornheim Schloss Hohehorst gebracht. Dort lebten viele ledige schwangere Frauen. Ich habe die letzten drei Monate bis zu deiner Geburt dort verbracht. Ich habe mich so gefreut, wenn du in meinem Bauch gestrampelt hast. Jeden Tag habe ich mit dir geredet und dir Lieder vorgesungen. Bis zum Schluss habe ich gehofft, dass ich dich behalten darf. Zehn Stunden lang hatte ich Wehen und dann warst du da. Sie haben dich in ein weißes Tuch gewickelt und ich durfte dich fünf Minuten im Arm halten. Ich bedeckte dich mit unzähligen Küssen und streichelte deine winzigen Händchen. Dann kam die Schwester und hat dich mir entrissen.

‚Schluss jetzt! Ihr Kind kommt nun bald in eine anständige deutsche Familie‘, hat sie gesagt und die Tür zugeschlagen.

Nachdem du weg warst, fühlte ich mich, als habe man mein Herz herausgerissen. Ich wollte nicht mehr essen und nicht mehr trinken, habe nur noch im Bett gelegen und geweint. Sie haben gesagt, dass ich schwermütig bin und mich nach ein paar Wochen in die Provinzial Heil- und Pflegeanstalt nach Osnabrück gebracht. Deinen Papa habe ich nie mehr gesehen. Hier sitze ich nun seit vier Jahren und denke in jeder Stunde, in jeder Minute an dich. Mein liebes kleines Mädchen, bitte verzeih mir! Es tut mir so leid! Deine Mama Caroline”

 

Ich faltete den Brief zusammen. Erst dann schossen mir die Tränen aus den Augen.

„Was ist danach mit meiner Mama passiert?”, fragte ich Tante Hildegard.

„An diesem Tag war ich bei ihr in der Klinik, sie hat mir diesen Brief gegeben und gesagt: ‚Heb ihn auf, wenn mein Mädchen kommt.’ Zwei Wochen später bekamen wir eine Nachricht aus der Klinik, dass deine Mama verstorben sei.

Tante Irmgard nahm mich in den Arm.

„Und wo ist mein Vater?”, wollte ich wissen. Irmgard sah mich traurig an.

„Wir haben nie mehr von ihm gehört.”

 

Pia Sterkenbach und die Schreibgruppenteilnehmerinnen sahen Regina lange an.

„Sind Sie zurückgekehrt zu Ihren Adoptiveltern?”, durchbrach die Rothaarige das Schweigen.

Regina schüttelte den Kopf.

„Nein, ich habe sie nie mehr gesehen. Ich wollte dort bleiben, wo meine Mama gelebt hat. Ich fand eine winzige Wohnung in der Elisabethstraße, schräg gegenüber von dem Haus, in dem sie und Tante Hildegard aufgewachsen sind. Der Anfang war sehr schwer, aber ich habe eine Arbeit bei einer Bank gefunden. Nach drei Jahren lernte ich dort meinen Mann kennen. Wir waren 54 Jahre verheiratet und führten eine gute Ehe. Letztes Jahr ist er verstorben”, sagte Regina und wischte sich eine Träne aus dem Auge.

Pia Sterkenbach räusperte sich. „Frau Akkermann, es tut mir so unendlich leid für all das, was Sie und auch Ihre Mutter erdulden mussten. Ich bewundere Ihren Mut und Ihre Stärke und danke Ihnen für Ihr Vertrauen, dass Sie all das heute mit uns geteilt haben.”

Regina nickte, ihre Hände verkrampften sich in ihrem Schoß. „All die Jahre konnte ich mit niemandem darüber sprechen, selbst mit meinem Mann und meiner Tochter nicht. Dieser Zeitungsartikel hat alles nach oben gespült, dann brach die Geschichte aus mir heraus.”

Pia Sterkenbach verabschiedete die Kursteilnehmerinnen. Regina überquerte den Marktplatz und lief durch die Marienstraße. Nein, sie konnte nicht mehr warten, bis sie zu Hause war! Sie zog ihr Handy aus der Tasche und wählte Andreas Nummer.

 

„Hallo Mama. Wie war dein Schreibkurs?”, ertönte die fröhliche Stimme ihrer Tochter.

„Andrea, mein Mädchen! Komm bitte heute noch vorbei, ich muss dir unbedingt etwas zeigen…”

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Renate Kaiser

ich bin 61 Jahre alt, wohne in Lever­ku­sen und arbeite im Bereich Mar­­ke­ting. Von mir sind sieben Kurz­ge­schich­ten in regionalen An­tho­lo­gien ver­öf­fentlicht worden. Da­­rüber hi­naus habe ich einen Ro­man über das On­line-Da­ting ver­öffentlicht so­wie drei Jugendromane.

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