05.07.2025

Der Schattenleser

Burkhard Sturm

Hört, hört und spitzt die Ohren, denn wir blättern eine Seite um im großen Buch der Lingener Chroniken - eine Seite, die nach Ems­was­ser, Lohe und Abenteuer riecht! Es ist die Mär von Hinnerk, dem Ger­bergesellen, dessen Weg gewundener war als der Aal im Fluss und überraschender als ein Sonnenstrahl im Lingener Novem­ber­nebel.

Wir schreiben das Jahr des Herrn 1397. Die tapfere Tat der Kive­linge von 1372, als sie die Stadtmauern gegen grimmige Belagerer hielten, war bereits Legende, ein wärmendes Feuer im kollektiven Gedächtnis, das alle drei Jahre im ausgelassenen Kivelingsfest wieder aufloderte. Abseits des Glanzes der wohlhabenden Gilden und Ratsherren wuchs Hinnerk auf - Sohn eines Gerbers, den das Fieber zu früh geholt hatte, und einer Wäscherin, deren Hände vom Laugenwasser rau waren wie Baumrinde. Er war von kleinem Wuchs, sein Haar hatte den unbestimmten Farbton nasser Erde, und der durchdringende Geruch der Gerbergruben am Rande der Stadt haf­tete ihm an wie eine zweite Haut. „Hinnerk Stinkpoot!“, höhnten die Söhne der Tuchhändler, deren Westen so farbenfroh waren wie ein Pfauenrad, wenn er, die Schultern gebeugt, Besorgungen machte. „Willst mit gegerbten Rattenfellen die Stadt verteidigen?“ Sein Herz zog sich dann zusammen wie ein schlecht sitzender Schuh, kalt und eng. Ein Kiveling war er, ja, dem Alter nach zählte er zu den jungen, unverheirateten Bürgersöhnen. Doch dem Ansehen nach? Ein Schat­ten, über den man stolperte, ohne ihn zu bemerken.

Doch in diesem Schatten glomm etwas. Ein Hunger nach Wissen, genährt von den Geschichten seiner Großmutter, die die Sagen des Emslandes kannte wie ihre Westentasche. Sie erzählte vom Riesen „Hemolt“, der einst im Moor hauste und von den „Hünenbetten“, jenen steinernen Gräbern, die wie schlafende Urviecher in der Land­schaft lagen und von denen man munkelte, die Riesen selbst hätten sie errichtet. Sie flüsterte vom Teufel, der zornig Felsbrocken durch die Gegend warf – der „Teufelsstein“ bei Messingen sei einer davon. Sie warnte vor den „Springenden Hinken“, Irrlichtern im Moor, die einen vom Weg ablockten, und vor den unheimlichen Erscheinungen im Nebel über der Ems – schöne weiße Frauen, die junge Männer ins Verderben zogen. Und da war Machurius, der grausame „Ortsgeist“, der spuken sollte, wo einst seine Burg ge­standen hatte, ein Name, der den Alten noch einen Schauer über den Rücken jagte. Nicht zu vergessen die Geschichten der „Holland­gänger“, der armen Teufel, die sich im Sommer in Holland verdingten und auf dem Heimweg oft räuberischen Überfällen zum Opfer fielen - wie der berüchtigte „Knapp Gerd“, dessen Ermordung bei Thuine zum Stoff schauriger Balladen wurde.

Hinnerk war kein Kämpfer mit dem Schwert, doch er sammelte diese Geschichten wie andere glänzende Kiesel. Nach der Ver­rich­tung des Tagwerks suchte er oft den kauzigen Schreiber Elms auf, einen Mann, alt wie die Stadtmauern selbst, der in einem zugigen Turmzimmer über alten Karten und vergilbten Chroniken brütete. Elms, dessen Augen hinter selbstgeschliffenen Glaslinsen fun­kelten wie Eiskristalle, lehrte ihn Lesen und prüfte Hinnerks Wissbegierde. „Wissen ist ein Schlüssel, Junge“, krächzte er, als er Hinnerks Hart­näckigkeit erkannte. „Oder ein Dietrich. Die alten Sagen… sie sind die Narben auf der Seele unseres Landes. Sie verraten alte Wun­den, verborgene Pfade und die Ängste der Menschen. Wer sie zu lesen versteht, der navigiert sicherer durch die Untiefen der Gegen­wart.“ Bei jedem Besuch erfuhr Hinnerk mehr über die Mythen und Legenden seiner Heimat und tauchte tiefer in die Welt der Sagen und in ihre verborgenen Lehren ein. Nachts versank er in tiefen Träumen von sagenhaften Riesen, Hexen und Helden, die wie Moor­nebel auf­zo­gen und am nächsten Morgen noch wie Tau auf seiner Seele lagen.

Die Gegenwart wurde bald unruhig. Obwohl Graf Nikolaus II. von Tecklenburg der Stadt Privilegien bestätigt hatte, brodelten die Konflikte mit den Bischöfen von Osnabrück und Münster weiter wie ein Topf Grütze auf zu heißem Feuer. Und noch etwas kroch aus den Schatten: eine Serie unheimlicher Vorfälle am Rande der Stadt, vornehmlich im Westen, wo der Mehringer Wald dunkel und dicht an die Felder grenzte. Schafe verschwanden, dann ein Ochse. Ein Köhler fand seine Hütte verwüstet, mit seltsamen, kratzenden Zeichen an der Tür, die an die Klauen des Teufels erinnerten. Schließlich fand man einen alten Holzknecht tot im Wald, kein Zeichen eines Kampfes, aber sein Gesicht zu einer Fratze des Grauens verzerrt. Die Leute begannen zu flüstern. War es der Geist des Machurius, der wieder umging? Hatte der „Pferdefuß“ seine Hand im Spiel, wie in der Sage von Messingen und Gersten? Oder war es eine Tat der „Weißen Frauen“ aus dem Ems-Nebel? Angst, klamm und kalt, legte sich über die Höfe. Man erinnerte sich an die „Spökenkieker“, jene Seher, die Unheil voraussagten – hatte nicht die alte Berta vom Bruchweg gemurmelt, sie habe Leichenzüge im Nebel gesehen?

Der Vogt, ein Mann, dem ein voller Bauch wichtiger war als leerer Aberglaube, verstärkte die Wachen. „Gesindel ist das“, brummte er. „Versprengte Söldner oder Diebe, die den Leuten einen Schrecken einjagen wollen.“ Hinnerk aber horchte auf. Die Vorfälle häuften sich an Orten, die in den Sagen als verflucht oder unheimlich galten – nahe der Stelle, wo angeblich die „versunkene Burg“ im Mehringer Wald lag, deren Glocken man manchmal leise bimmeln hören sollte. Er erinnerte sich an Elms‘ Worte: Die Ängste der Menschen… ein Dietrich?

„Hirngespinste, Hinnerk!“, lachte Gerd, der kräftige Schmiedesohn mit Armen wie junge Eichen, als Hinnerk zögernd seine Gedanken äußerte. Gerd war ein Anführer unter den Kivelingen, laut, tapfer und direkt. „Du siehst Gespenster, weil du zu oft bei dem alten Bücher­wurm Elms hockst. Wir brauchen Muskeln, keine Märchen­stunden!“

Doch Hinnerk ließ sich nicht abbürsten. Heimlich erkundete er die Tatorte. Die Spuren im Wald – sie waren zu geschickt für maro­dierendes Kriegsvolk. Jemand kannte sich hier aus. Und er fand mehr: kleine, grob geschnitzte Holzfiguren, die an Dämonen erinnerten, versteckt in Astgabeln. Am Fundort des toten Holzknechtes roch es seltsam schweflig. War das der Geruch der Hölle? Oder… Schwefel? Wie ihn Gaukler benutzten? Er dachte an die Sage vom Grafen von Bentheim, der den Teufel täuschte. Täuschung. Nutzte hier jemand die alten Sagen als Maske?

Die entscheidende Nacht kam mit einem Nebel so dicht, dass man die Hand vor Augen nicht sah. Er sickerte von der Ems herauf, kalt und feucht, schluckte jedes Geräusch. Hinnerk, eingehüllt in einen dunklen Wollumhang, der noch immer schwach nach Lohe roch, schlich zum Mehringer Wald, dorthin, wo die versunkene Burg liegen sollte. Verborgen im Dickicht, das nach feuchter Erde und Moder roch, wartete er. Das einzige Geräusch war sein eigener Herzschlag, der gegen die Rippen trommelte wie ein Specht.

Da hörte er es. Gedämpfte Stimmen. Männer, nicht viele. Sie bewegten sich leise. Ihr Anführer sprach: „…die Angst sitzt ihnen in den Knochen. Wenn wir morgen Nacht den Händlerzug überfallen, nahe der Teufelsley, mit Geschrei und den Schwefelfackeln… sie werden denken, der Leibhaftige selbst holt sie.“ Ein raues Lachen. Hinnerk erkannte die Stimme! Es war nicht der Teufel und kein Söld­nerhauptmann. Es war Lübbert, der Sohn des verbitterten Rats­schreibers, ein junger Mann, der sich übergangen fühlte und dessen heimlicher Neid auf die wohlhabenden Kaufmannsfamilien stadtbe­kannt war. Er nutzte sein Wissen aus den Chroniken und die Furcht der Leute für seine eigenen räuberischen Zwecke! Die Dämonen­figuren, der Schwefelgeruch, die Wahl der Orte – alles eine perfide Inszenierung!

Hinnerks Gedanken rasten. Wissen ist ein Dietrich. Lübberts Dietrich war die Angst. Hinnerks Dietrich musste das Wissen selbst sein. Er rannte zurück, der Nebel peitschte ihm ins Gesicht. Er stol­perte, rappelte sich auf, der beißende Gestank der Gerbergruben schlug ihm entgegen, wie um ihn aufzuhalten, aber er beachtete ihn nicht. Er stürmte in die Kivelingswache, wo Gerd und andere beim Armdrücken waren. Der Raum roch nach Bier, Schweiß und kaltem Rauch. „Lübbert ist es!“, keuchte Hinnerk, außer Atem. „Im Meh­ringer Wald! Sie nutzen die Sagen, um Angst zu säen! Sie planen morgen Nacht einen Überfall!“

Spott brandete auf. „Lübbert? Der Schreiberling?“ Doch Hinnerk stand fest, seine Augen leuchteten im Schein der Kienspäne. Er schilderte jedes Detail – die Stimme, den Plan mit den Schwefel­fackeln nahe der Teufelsley, die geschickte Tarnung der Spuren, die Dämonenfiguren als Einschüchterung. „Er benutzt die Geschichten, die wir fürchten, als Waffe gegen uns!“

Gerd starrte ihn an, sein Lachen erstarb. Er sah das Fieber in Hinnerks Augen, aber es war nicht das Fieber der Krankheit, sondern der Überzeugung. Ein älterer Kiveling murmelte: „Die Teufelsley… ein unheimlicher Ort. Und Schwefel…“

„Donnerwetter, Gerber“, sagte Gerd langsam, dann fester. „Wenn das stimmt… dann hat der Schreiberling mehr Gift in sich als eine Natter. Wir können nicht bis morgen warten.“ Er schlug mit der Faust auf den Tisch. „Hör zu, Hinnerk. Du kennst ihre Tricks, und du kennst den Wald. Du führst uns!“

Der Spötter vertraute dem Geschichtenerzähler, welch Genug­tuung verspürte Hinnerk da.

Durch den undurchdringlichen Nebel führte Hinnerk eine Handvoll entschlossener Kivelinge, gerüstet mit Helm und Lanze. Kein lauter Angriff. „Wir müssen sie ihre eigene Medizin schlucken lassen“, flüsterte Hinnerk, seine Stimme nun fest. „Sie spielen Geister? Dann sollen sie Geister bekommen!“ Sie teilten sich. Einige schlichen durchs Unter­holz und imitierten das unheimliche Klagen, das man den Spöken­kiekern zuschrieb. Andere schlugen mit schweren Ästen dumpf gegen Baumstämme – das Stampfen der Riesen aus den Hünen­betten! Hinnerk selbst hatte von Elms nicht nur lesen gelernt. Er entzündete kleine Mengen Schwefelpulver mit einem Zündstein – kurze, zischende, bläulich-grüne Blitze schossen durch den Nebel, wie Irrlichter, die zwischen den Bäumen tanzten. Ein anderer Kiveling ließ den markerschütternden Schrei hören, von dem die Sage des Machurius erzählte.

Lübberts Männer, die sich sicher fühlten in ihrem Versteck, einer kleinen, getarnten Höhle, erstarrten. Der Nebel, der eben noch ihr Verbündeter war, wurde zum Feind. Die Geräusche kamen von über­all und nirgends. Das unheimliche Klagen, das dumpfe Stampfen, die gespenstischen Blitze… war das mehr als Täuschung? Hatten sie die alten Mächte geweckt? Panik begann sich auszubreiten und die gestandenen Männer wurden zu ängstlichen Knaben.

Doch Lübbert ließ sich nicht täuschen und erkannte die List. „Das ist ein Trug!“, schrie er. „Sie äffen uns nach! Männer, zu den Waffen!“ Er versuchte, seine Leute zu sammeln. Für einen Herzschlag lang hing alles am seidenen Faden. Doch da brach Gerd mit einem Gebrüll, das einem Bären Ehre gemacht hätte, aus dem Nebel hervor, gefolgt von den anderen Kivelingen. Der Überraschungsmoment, gepaart mit der nagenden Furcht, war zu viel. Lübberts Männer warfen die Waf­fen weg oder versuchten zu fliehen. Lübbert selbst stellte sich Gerd, wurde aber nach kurzem, heftigem Kampf überwältigt. Der Schmie­de­sohn fesselte ihn mit einer Grimasse, die halb Wut, halb wider­willige Bewunderung war. „Du nichtsnutziger Schreiberling… aber Eier hattest du.“

Die Rückkehr nach Lingen glich einem Triumphzug, auch wenn die Helden schmutzig und vom Nebel durchfeuchtet waren. Hinnerk, der Stinkpoot, wurde plötzlich mit anderen Augen gesehen. Der Vogt stammelte Entschuldigungen. Die Kaufleute, deren Zug nun sicher die Stadt erreichen würde, versprachen reiche Belohnung.

Beim nächsten Kivelingsfest – ein Fest von besonderem Glanz – wurde Hinnerk, der Gerbergesell, einstimmig zum Hauptmann ge­wählt. Gerd erhob als Erster seine Stimme, kräftig und klar: „Er hat uns gezeigt, dass der schärfste Verstand mehr wert ist als der stärkste Arm! Und dass die alten Geschichten mehr sind als Ammenmärchen – wenn man sie zu lesen versteht!“

Manchmal ändert sich der Lauf der Geschichte, nicht aus Not, sondern aus Einsicht. Hinnerk stand da, im Ehrenkleid der Kivelinge, der Geruch von Lohe fast überdeckt vom Duft frisch gewaschener Wolle und Stolz. Er spürte das Gewicht der Verantwortung auf seinen schmalen Schultern. Vom Ruch der Grube zum Duft der Verant­wortung. Mit einem Teil des Belohnungsgoldes tat er, was kein Lingener erwartet hatte. Er beauftragte den besten Goldschmied der Stadt, eine massive, goldene Plakette zu schaffen, um sie an die silberne Königskette der Kivelinge zu heften (die Freiheit nehmen wir uns, diese Tradition mit Hinnerk beginnen zu lassen). Aber sie zeigte nicht nur das Stadtwappen. Hinnerk ließ eingravieren: Eine stilisierte Welle der Ems – Lebensader und Verbindung. Einen kleinen, wachsamen Fuchs, der aus einem Eichenblatt späht – Symbol der List und des Wissens um die Natur und die alten Pfade. Und, fast unsichtbar, eingelassen in das Gold, ein winziges Stückchen Rasen­eisenstein aus dem Moor – eine Erinnerung an die Erde, die Gefahren und die Wurzeln.

Vor den versammelten Bürgern, die Kette nun um den Hals, hob Hinnerk die Plakette. Seine Stimme war nicht laut, aber sie trug. „Manche nannten mich den Molch aus der Lohgrube.“ Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. „Vielleicht bin ich das auch geblieben. Aber vergesst nie: Selbst im tiefsten Schlamm wurzeln die stärksten Pflanzen. Diese Plakette soll uns erinnern: Die Ems nährt uns, der Fuchs lehrt uns Wachsamkeit, und die Erde birgt Geheimnisse – gute wie böse. Die alten Sagen sind Teil von uns, unser Erbe und unsere Warnung. Hört auf sie, kennt eure Heimat, ihr Licht und ihren Schatten! Dann werden wir nicht nur überleben. Dann werden wir stark sein.“

Und so wurde die Geschichte von Hinnerk, dem klugen Gerber, der die Geister der Vergangenheit rief, um die Dämonen der Gegenwart zu bannen, selbst Teil des Lingener Sagenschatzes. Ein Beweis, dass Heldenmut viele Formen hat und manchmal im Verstehen der eigenen Geschichte die schärfste Waffe liegt. Es geschah in Lingen, und wahrlich, es ist wert, erzählt zu werden, immer und immer wieder.

© Bildrechte liegen bei der Einsenderin / dem Einsender.
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Burkhard Sturm

Ich bin 57 Jahre jung und lebe in meiner rheinländischen Wahlheimat Leverkusen Schleh­busch. Ich bin promovierter Physiker und arbeite bei einem globalen Techno­lo­gie-Unternehmen im technischen Vertrieb als  Principal Architect. Ich liebe gute Ge­schichten, habe aber noch keine Texte ver­öffentlicht.

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