05.07.2025
Die Schönheit als Chance
Bastian Bruns
Juni 2005: Schulhof Johanneum / Georgianum
„Vielleicht ist das der Anfang, Vielleicht ist das das Ende“
(Madsen - „Vielleicht“).
Es wird ein schöner Sommer, ich bin mir ganz sicher – vielleicht der schönste Sommer meines bisherigen Lebens. Es ist Nachmittag und die Sonnenstrahlen spiegeln sich in den großen Fensterscheiben des Eingangsbereichs meiner Schule, in die ich so viele Tage ein- und ausgegangen bin. Sie blenden mich, ich kneife meine Augen zusammen und nehme nur die Konturen meiner Mitschüler*innen wahr, die um mich herum aufgeregt durcheinander sprechen. Es sind die Stimmen, die mich die letzten dreizehn Jahre begleitet haben. Ich versuche diesen Moment einzufangen und zu konservieren. In mir dämmert ein Gefühl von Ende und Anfang, vom Loslassen und davon, Neues zuzulassen, vom Realisieren und Fantasieren. Und dann, aus dem Nichts, lasse ich mich vom Hochgefühl anstecken, werfe meine rote Mütze in die Lüfte, öffne mir an der Betonkante einer Sitzbank ein Bier, der Schaum spritzt mir entgegen. Ich lache und brülle zum ersten Mal in meinem Leben: Abi-abi-abitur!
Auf dem Lingener Marktplatz: „Pure Vernunft darf niemals siegen“ (Tocotronic).
Nach der ersten Euphorie auf dem Schulhof und zahlreichen Unterschriften auf den Abi-Mützen der Mitschüler*innen, bevölkern wir als Rudel den Lingener Marktplatz. Wir sind laut, wild, ausgelassen. Die Situation erinnert mich an unsere Familienhündin Elfi, wenn ich nach dem Mittagessen mit ihr Gassi gehe. Sie rennt zunächst durch den Garten, will schnuppern, rumtollen und auf keinen Fall angeleint werden. Wir schnuppern die Freiheit und begießen dies mit klebrigem Nimm2-Schnaps. Im nächsten Moment hat jemand zum gigantischen Flunky-Ball-Turnier aufgerufen: Über 100 junge Menschen feuern sich gegenseitig an und starren auf eine kleine Plastikflasche in der Mitte des Marktplatzes.
In dem Auge dieses Ausgelassenheits-Orkans nehme ich zufrieden und angetrunken auf den Treppenstufen des historischen Rathauses Platz und lasse die Dinge auf mich wirken. Nie wieder Physik, nie wieder Mathematik und nie wieder Kleinstadt. Ich kenne jede Ecke Lingens, ich saß auf jedem Stuhl im Extrablatt, im Mamba, im Star, im Pröti, im Boni-Keller, in der Schraube, im Kotten, ja und im Joker sowieso. Ich bin hunderte Kilometer Fahrrad gefahren, bei Nacht, bei Tag, bei Sonnenschein, aber vor allem bei Regen und Wind: Jahrgangszelten am Dieksee, achtzehnter Geburtstag in Bramsche auf den Emswiesen oder Kurstreffen in Biene, im Gauerbach oder noch schlimmer - in Emsbüren.
Ich habe es geliebt, angetrunken auf dem Hollandrad die Lieblingssongs auf meinem Walkman zu hören. Zusehends nervte mich das Lästern, die Blicke untereinander und die Cliquenbildungen. Dazu die Vorurteile und alten Geschichten, die immer wieder aufgewärmt werden wie ein Curry-King in der Mikrowelle. Nach so vielen gemeinsamen Jahren glaubt ein jeder den anderen zu kennen, und auch wenn ich mich selbst manchmal nicht so wirklich kenne, meinen die anderen zu wissen, wer ich bin, und somit sollte dann auch mir klar sein, wer ich zu sein habe. Positiv ausgedrückt, finden mich die anderen wahrscheinlich nett – realistisch gesehen, bin ich eher ein Langweiler. Denn ich war all die Jahre immer dabei, aber nie dazwischen. Wie habe ich mich in diese Rolle gebracht? Mich hat niemand gezwungen, stiller zu sein, mich hat niemand gemobbt – es ist einfach mit den Jahren passiert.
Im alkoholisierten Moment der kalten Klarheit spüre ich einen spitzen Ellenbogen in meinem Hüftbereich. „Es soll jeder auf meiner Mütze unterschreiben, also du auch. Stopp, bist du überhaupt in unserem Jahrgang?“ „Äh ja.“ „Wie äh ja? Bitte beweisen!“ „Wir waren im gleichen Reli-Kurs.“ „Niemals!“ „Das ist mir zu blöd.“ „Weil du nicht bei uns im Jahrgang warst?“ „Friede, dein Ernst?“ „Woher kennst du meinen Namen?“ „Nochmal, Reli bei Frau Koring!“ „Weiter im Bibeltext mein christlicher Freund und Kupferstecher!“ „Seitdem du zehn bist, wünschst du dir ein Tattoo, mit zwölf hast du dir eins stechen lassen, übrigens auf deinem Schulterblatt, deine Cousine hat sich als deine Erziehungsberechtigte ausgegeben. Du bist mit jungen fünfzehn Jahren mit deinem Freund zusammengekommen – aber für deine Eltern erst mit sechzehn. Du hattest im Linus ein halbes Jahr Hausverbot, weil du und dein Freund es im Whirlpool etwas übertrieben habt. Soll ich weitermachen?“ „Oh mein Gott, du bist ein Stalker?“ „Ääh, das weiß jeder und du hast Annika die Stories sehr detailreich in den letzten zwei Jahren erzählt. Ich saß vor euch. Wenn du willst, dass deine geheimsten Geheimnisse niemand mitbekommt, dann rede einfach leiser.“
Auf einmal lacht sie los und schreit: „Er spricht! Annika, unser Hinterkopf aus Reli hat seine Stimme gefunden. Ein biblisches Wunder auf dem Lingener Marktplatz – Halleluja!“ Die ersten Mitschüler*innen drehen sich zu uns um. In diesem Moment fällt mir wieder ein, warum ich so gern der stille Beobachter gewesen bin. Ich hasse es, im Mittelpunkt zu stehen. „Nun sag mein wunderschöner lockiger Hinterkopf, wie ist dein Name?“ „Max.“ „Hallo Max!“ „Hallo Friede!“ „Auf den Schock erfülle ich mir einen Kindheitstraum. Ich gönne mir eine süße überteuerte Mäusespeck-Torte bei Hotfilter, und du kommst mit. Wenn du mich schon so gut kennst, will ich dich auch kennenlernen.“ Annika eilt herbei und will sie davon abbringen, aber da hat Friede mich schon am Halskragen gepackt und zieht mich über den Marktplatz hinter sich her. Ich fühle mich wie in einem Fiebertraum, und mein hochroter Kopf leuchtet wahrscheinlich bis nach Clusorth-Bramhar.
Friede ist mein Gegenentwurf: Sie ist größer als ich, blond, sportlich, gesellig und aufgeweckt. Ich empfand sie immer als etwas zu laut und etwas zu präsent. Friede führt mit ihren jungen neunzehn Jahren schon ein wirkliches Erwachsenen-Leben. Friede fährt in den Sommerferien in Pärchen-Urlaube, hat mit ihrem Freund eine Pärchen-Wohnung und verabredet sich an Wochenenden mit anderen Pärchen zu Pärchen-Abenden. Wir sind beide im gleichen Jahrgang, haben beide unser Abi mit 2,9 abgeschlossen und leben dennoch gefühlt auf zwei verschiedenen Planeten. Schicksalhaft scheint das Sonnensystem dafür zu sorgen, dass sich unsere beiden Himmelskörper kreuzen und wir nun an Brackmann vorbeiziehen, mit dem klaren Ziel: Hotfilter. Na, herzlichen Glückwunsch! „Früher, als ich mit meinen Eltern manchmal am langen Donnerstag in der Stadt war, durfte ich mir bei Brackmann eine Sticker-Packung aussuchen. Das war das Größte für mich.“ „Ja, für mich auch, und danach gab es noch eine Pommes in der Schlemmergasse.“ Was ist mit mir los? Ich rede, im besten Fall nennt die Gesellschaft das Smalltalk, was ich hier mache. „Hahaha, ja genau, und dann noch einmal auf die große Rutsche und ab nach Hause.“ „Aber nur, wenn es nicht geregnet hat.“ Wir müssen über die Gemeinsamkeiten schmunzeln. Ich fühle mich irritierenderweise zu zweit ohne den ganzen Jahrgang um mich herum viel freier. Zusammen gehen wir nun rechts in die Lookenstraße. „Sag mal, hast du schon einmal einen Fisch beim Fischparadies gegessen?“ „Neee, und um ehrlich zu sein, ich kenne nicht einmal jemanden, der jemanden kennt, der dort etwas bestellt hat.“ „Okay, es ist uns beiden klar, ich habe einen gut bei dir. Du hast mich, im wahrsten Sinne des Wortes, vor unserem Jahrgang durch die Manege gezogen. Ich biete dir dreiundsechzig Cent, wenn du ins Fischparadies gehst und sagst: ‚Moin, ihr Klabauter-Männers, gesetzt dem Fall, die Flut steht hoch und der Deich ist kurz, mein Sternzeichen wäre Fisch – mit welchem Seemanns-Rabatt kann ich bei euch rechnen?‘“ Friede prustet los vor Lachen. „dreiundsechzig Cent?“ „Ich finde es witzig.“ „Ich habe es mir bei deinem Klamottenstil schon gedacht, dass du eine arme Kirchenmaus bist, aber so pleite“, sagt sie mit einem Augenzwinkern und geht ohne Beanstandungen ins Fischparadies. Mit ihrem Selbstbewusstsein, ihrer spitzen Zunge und unserer Abiturienten-Montur macht sie innerhalb von Sekunden das Fischparadies zum Friede-Paradies und kommt mit zwei Matjesbrötchen auf den Händen lachend auf mich zu und ruft mir entgegen: „So mein Bester, ich erhöhe auf 85 Cent, wenn du nun mit den beiden Brötchen zu Hotfliter marschierst und fragst, ob sie diese originalen Fischbrötchen gegen eine Mäusespeck-Torte tauschen.“ Karma is a Bitch. Wahrscheinlich sieht Friede schon die Nervosität in meinen Augen. Okay, du verlässt in den nächsten Wochen Lingen und jeder sieht, dass heute ein besonderer Tag ist. „Entschuldigen Sie, mit dem Essen in den Händen dürfen Sie leider unser Geschäft nicht betreten. Wir können uns keinen Fisch an unseren Süßigkeitsvariationen leisten.“ „Ja, das verstehe ich, aber da liegt der Hase im Pfeffer.“ „Wovon sprechen Sie?“ Die Verkäuferin ist sichtlich irritiert. „Ich schlage Ihnen ein Geschäft vor: Ich biete Ihnen als Nachmittagssnack diese beiden sehr leckeren Matjesbrötchen an und erhalte dafür von Ihnen eine Mäusespecktorte – kennen Sie das Spiel Eiertausch, das habe ich als Kind sehr gern …“ Aber weiter kam ich mit meinen Ausführungen leider nicht. „Wir sind ein Feinkostgeschäft und Sie wollen mir zwei übelriechende Fischbrötchen anbieten? Verlassen Sie sofort unsere Räumlichkeiten!“ Was für eine Blamage! Mit meinen zwei Matjesbrötchen in den Händen kehre ich zu Frieda zurück, die das ganze Schauspiel augenscheinlich beobachtet hat, denn die einzige Frage, die sich mir stellt, ist, ob sie an ihrem lauten Lachen ersticken oder ein Verwarngeld wegen Ruhestörung erhalten wird. „Die letzte Viertelstunde war das Highlight meines Tages und das, obwohl ich heute mein Abi bestanden habe.“ Sie legt den Arm kumpelhaft um meine Schulter. „Komm, wir gehen nun rüber zum extra-Markt, kaufen uns Sekt und Bier und weißt du, wo wir den ganzen Kladderadatsch trinken? Bei unserer Rutsche auf dem Parkhügel.“
Auf dem Parkhügel: „Mach immer, was dein Herz dir sagt“ (Kettcar – „48 Stunden“).
Hier oben spielt ein anderes Lingen. Es fühlt sich urbaner und auch ein bisschen düsterer an. Wahrscheinlich gedacht als grüner Fleck mitten in der Innenstadt, ist die Parkanlage als Drogenhügel verschrien. Heute sind wir hier oben alleine. Schlechte Graffitis schmücken die Bänke, Zigarettenstummel haben leider den Weg in die Mülleimer nicht geschafft und Bierdosen liegen in den Büschen. Es ist keine Wohlfühloase, aber für mich ist der Parkhügel in diesem Moment der perfekte Ort. Wir schütteln unsere gekauften Sektflaschen, zählen runter und lassen dann gemeinsam die Korken in die Lüfte schießen. Ich bin es nicht geübt, das Wort zu übernehmen, aber der prickelnde Alkohol sorgt bei mir für eine lockere Zunge: „Sag mal Friede, wo oder wie lernt man eigentlich mit fünfzehn Jahren einen fünf Jahre älteren Mann kennen?“ „Wie du das sagst, einen Mann kennen. Tobias war ein Jahr älter als du gerade bist.“ „Ich habe relativ wenig Kontakt zu fünfzehnjährigen Mädels.“ „Vielleicht, weil du grundsätzlich wenige Kontakte pflegst? Ganz klischeemäßig auf dem Kivelingsfest. Meine Mädels und ich waren zum ersten Mal Marketenderinnen und hatten die Aufgabe Blumensträuße als Tischdeko zu binden. Tobias hat mit seiner Sektion die Verantwortung für den Aufbau übernommen, und er war unser Ansprechpartner. Wir beiden hatten direkt eine besondere Verbindung zueinander und hatten im Grunde das ganze Fest zusammen verbracht. Seitdem sind wir auch ein Paar und ich bin sehr glücklich. Er gibt mir einen Halt, den ich in meiner Familie selten spüre.“ „Eine andere Frage: Nachdem ich nun bei Hotfilter höchstwahrscheinlich keinen Ausbildungsplatz bekommen werde, brauche ich eine Alternative. Wie sind deine Pläne für die Zukunft?“ Friede stöhnt auf: „Also noch eine ernstgemeinte Frage. Ich bleibe Lingen treu. Ich mache erstmal eine Ausbildung zur Bauzeichnerin, und im Anschluss noch eine weitere Ausbildung zur Immobilienkauffrau, und dann, mein Lieber, knöpfe ich mir den Häuser- und Wohnungsmarkt Lingens vor. Hier ist so viel Potential. Ich bin mir sicher, du wirst diese Stadt in den nächsten zehn oder zwanzig Jahren nicht wiedererkennen. Und ich will daran mitgestalten.“ Ich erkenne eine andere Seite an Friede. Das ist nun nicht mehr die Quatsch-Friede, die keine drei Worte ohne Sarkasmus über ihre Lippen bekommt. Mich macht es im gleichen Moment wütend. Insgeheim habe ich gehofft, dass sie genauso planlos ist wie ich. „Willst du wirklich in der Kleinstadt versauern? Immobilienmakler sind doch die Gebrauchtwagenhändler von gestern. Ich habe dich nie in Altenlingen in einem Reihenhaus mit zwei Kindern gesehen.“ Ich will gerade weiter ausholen, da fällt mir Friede ins Wort: „Bleib fair! Habe ich von Kindern gesprochen? Für Kinder braucht man Zeit!“ Ich schaue sie nun einfach ruhig an. Vielleicht hat Friede in diesem Moment einen Blick hinter ihre Fassade zugelassen – aber natürlich nur für eine Sekunde. Schon lächelt sie mich schelmisch an: „Und du? Was hat dieser geheimnisvolle Typ in Zukunft vor?“ Ich räuspere mich: „Ich sehne mich nach einem Neuanfang und der Anonymität einer Großstadt.“ Friede verschluckt sich an ihrem Sekt. „Anonymität, ernsthaft? Du bist die unsichtbarste Person unseres Jahrgangs.“ „Es ist meine Rolle.“ „Aber ein neuer Ort macht aus dir keinen anderen Menschen.“ „Aber an einem anderen Ort haben die Leute noch keine vorgefertigte Meinung. Ich bin der Typ, der keinen Namen hat und von dem du nicht einmal wusstest, dass wir in einem Jahrgang sind. Dieser Typ bin ich! Geht es überhaupt noch schlimmer?“ Ich bin von meiner eigenen Emotionalität überrascht und muss schlucken, damit ich hier nicht beginne, loszuheulen. Shit, ich bin anscheinend betrunkener, als ich dachte. Ich habe mich nicht im Griff. Friede sucht leicht grinsend den direkten Augenkontakt. „Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass ich dich nicht gekannt habe, oder? Du saßt zwei Jahre genau vor mir. Außerdem verbringe ich den wahrscheinlich schönsten Tag meiner Schulzeit doch nicht ohne Grund mit einem wildfremden Menschen.“ Ich schaue Friede verständnislos an. „Max! Du musst dich nicht mit uns messen, das ist nicht dein Niveau. Du schreibst ausschließlich dreizehn bis fünfzehn Punkte in deinen Klausuren. Aber du hältst es nicht einmal für nötig, wenn du direkt angesprochen wirst, zu antworten. Deshalb nimmst du gut und gerne einen schlechteren Abi-Schnitt in Kauf. Ich wollte unbedingt wissen, wer du bist. Es war heute meine letzte Möglichkeit, dich anzusprechen. Entschuldige die Art und Weise, aber im Nachhinein bin ich einfach froh, dass ich es gemacht habe.“ Friede macht einen Schritt auf mich zu. „Ich glaube, wir beide könnten gute Freunde werden.“ Friedes Worte tun gut, doch gleichzeitig spüre ich einen Druck in meiner Brust. „Freunde? Wir beide? Die sich eine Flasche Apfelkorn teilen oder die immer zusammen die neuste Folge O.C., California schauen?“ „Warum reagierst du so sarkastisch?“ „Friede, ich glaube einfach, ich passe in dein Leben ungefähr genauso gut wie Butter auf einem Nutella-Toast.“ „Ganz ehrlich, exakt das ist mein Lieblingskaterfrühstück.“ „Dann ist es ein sehr schlechtes Beispiel. Wir passen zusammen wie Mentos in einer Cola, Tennissocken in Birkenstock, meine helle Haut ohne Lichtschutzfaktor 50 in der Sonne – also gar nicht.“ Sie atmet tief durch. „Okay Max, dann reden wir nun über Musik. Ich habe dich im Alten Schlachthof bei dem Konzert von Tomte gesehen. Kennst du deren Lied „Schönheit der Chance“? Wir erleben sie doch gerade, die Schönheit der Chance. Lass uns sie festhalten. Die rote Abi-Mütze ist unsere Uniform. Wir dürfen heute mit Recht albern sein. Wenn wir in zwanzig Jahren an das alles zurückdenken, wollen wir doch versöhnlich auf unsere Schulzeit schauen.“ „Ich mag das Lied und deinen Blick auf den heutigen Tag. Gehen wir nun wie zwei Dreizehnjährige in einen Passfotoautomat und machen unglaublich peinliche Grimassen?“ „Aber vorher rutschen wir und kreischen dabei bitte wie zwei Kinder nach zu viel Softeis.“
Im Fotoautomat, Bahnhof: „Ja, ich weiß, es war 'ne geile Zeit, Hey, es tut mir Leid, es ist vorbei“ (Juli - „GeileZeit“).
Zusammen sitzen wir nun im Lingener Bahnhof auf dem Hocker im Passfotoautomaten und gackern wie eine ganze Hühnerfamilie. Gefühlt wackelt der ganze Kasten – und das zur Rush-Hour. Die wartenden Bahngäste schauen uns zum Teil belustigt und zu einem größeren Teil genervt bei dem Spektakel zu. Ohne Friede wäre ich unter keinen Umständen in diese Kabine gegangen. Mir wird bewusst, dass mir ein bester Freund, eine beste Freundin fehlt für einen kräftigen Arschtritt, für mehr Mut und für viel mehr Freude. Aber ich bin neunzehn, es ist doch noch nicht zu spät. Es wird ein schöner Sommer, ich bin mir ganz sicher – vielleicht der schönste Sommer meines bisherigen Lebens.
Dann halten wir etwas verträumt unsere Bilder in den Händen. Wenn ich ehrlich bin, habe ich mich ein wenig in Friede, nein eigentlich in uns beide, in unseren Humor und unsere Spielchen verliebt. Deshalb möchte ich, dass der Tag nie endet. „Friede, lass uns zusammen ein Bier direkt in der Bahnhofskneipe trinken. Ich lade dich ein.“ „Max, es ist nun schon 18 Uhr. Ich habe mit den anderen Mädels ab jetzt einen Tisch im E-blatt reserviert. Mein Nokia explodiert förmlich vor lauter SMS, weil sie wissen wollen, wo ich stecke. Kommst du mit mir zurück zum Marktplatz?“ Ich kann meine Enttäuschung nicht verbergen und fühle mich naiv, dass ich den Abschied nicht hab kommen sehen. „Alles gut, dann gehe ich zu den Manfreds alleine ans Brett.“ Und blicke dabei auf die Testosterontruppe in der Kneipe. „Es war ein wundervoller Nachmittag mit dir, den ich niemals so erwartet habe. Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder. Vielleicht beim Abifestival? Was denkst du?“ „Wie heißt es in dem Song ‚Schönheit der Chance‘ so schön: ‚Was wir machen, ist nicht vorgesehen‘“.
„Aber es ist schön dich hier zu sehen.“ Wir umarmen uns auf dem Bahnhofsvorplatz, dann macht sich Friede auf den Weg, überquert telefonierend und lachend den Zebrastreifen. Und ich? Ich schaue auf das Passfoto und frage mich, was an diesem Nachmittag in Lingen und mit mir geschehen ist?

Bastian Bruns
Mit 40 Jahren: Die einen kaufen sich ein Cabrio und kämmen ihr Haar über lichte Stellen, die anderen wühlen in alten Fotokisten und schreiben ihre erste (Kurz-)Geschichte. Ich hoffe, sie gefällt.