05.07.2025

Die Vernehmung

Karin Schweiger

Kriminalhauptkommissar Jochen Seibert seufzt, reibt sich über das völlig übernächtigte Gesicht mit dem Zehntagebart und stürzt den Rest des höllisch starken Kaffees hinunter, den ihm der Kollege Schröder gereicht hat. Entschlossen wendet er sich dem zum Vernehmungsraum erklärten Büroraum des Polizeigebäudes in der Wilhelm-Berning-Straße zu, um den von der SoKo »Löwenmorde« fest­gesetzten Verdächtigen zu befragen. Gerackert, fieberhaft ge­sucht, Spuren akribisch verfolgt, Theorien aufgestellt und verworfen hatten sie in der letzten Zeit fast ohne Schlaf. Wie immer, wenn es darum ging, den sich bereits abzeichnenden nächsten Mord zu verhindern – da unterscheidet sich der echte Alltag nicht vom TV- und Buch-Kommissariat. Aber der Lösung waren sie kein Schrittchen nähergekommen. Es gab da nichts zu beschönigen, Kommissar Zufall hatte ihren Fall gelöst.

Und natürlich hatte der Kollege Schröder stets und für alles den passenden Spruch parat gehabt. Belesen war der! So manches Mal hatte er sich schon gefragt, ob der neben Job und Lesen noch anderes Privatleben hatte. Zugegeben, manchmal nervte es ganz schön. Und auch zugegeben, so ein Anflug von Stolz schlich sich stets in seine Brust, wenn er eines der Zitate einem Autor oder einer Autorin zuordnen konnte. Agatha Christie hatte er, Seibert, schließlich auch verschlungen. In einem Leben vor dem Kommissariat.

Ein letztes tiefes Durchatmen, dann drückt er die Klinke hinunter und stellt sich dem Serienmörder. Pardon, immer schön bei der kor­rek­ten Terminologie bleiben: dem des Mordes an sechs Men­schen Verdächtigen. Mindestens sechs Opfer, ergänzt er im Geiste. Die üblichen Belehrungsworte, das Diktiergerät auf dem Tisch ein­schalten. Der Mann will weder einen Anwalt noch hört er richtig zu. Seibert mustert ihn: ordentlich gekleidet, frische Gesichtsfarbe, adrett frisiertes Haar. Er dünstet weder Schweiß noch üble Es­sensgerüche aus und scheint kein bisschen nervös. Wie hatten die Leute im Kötterhook in Bramsche gesagt, wo er mit Familie wohnte? Der nette Nachbar, stets freundlich und hilfsbereit.

»Ihre Freunde und Bekannten schildern Sie als guten und liebevollen Familienvater. Sind Sie das oder haben Sie dafür ein Double?« Seibert fällt es schwer, einen politisch korrekten Tonfall einzuhalten, weshalb er mit einer Frage beginnt, die er selbst bei Kollegen verächtlich als Small-Talk-Geplänkel bezeichnet hätte.

Sein Gegenüber lächelt. Ein unverbindliches, harmloses Lächeln, das Seibert noch mehr Wut durch die Adern treibt. »Ich liebe meine Frau und bin stolz auf meine Söhne. In meiner kargen Freizeit gehe ich gern mit ihnen zum Fußballspielen. Beantwortet das Ihre Frage?« Das Lächeln bekommt einen maliziösen Zug.

Seibert knirscht unhörbar mit den Zähnen. Auch an seiner Arbeitsstelle, das hatten die Recherchen der Kollegen im Aldi-Zen­tral­lager ergeben, fand man nur freundliche Worte über den Mann: zuverlässig, ordentlicher Arbeiter, selten krank. Die einzige Marotte, von der seine Kollegen berichten konnten: Er hat ein Faible für grüne Polohemden.

»Warum morden Sie?« Schluss mit Small Talk, Seibert will das hier hinter sich bringen. »Was hatten Sie mit den Opfern zu schaffen? Was haben die Leute getan, um Sie zu erzürnen?«

Der Mann ihm gegenüber spielt aufreizend lässig an den Bändseln seines Hoodies herum. Seibert kann einen Blick darunter erhaschen – grünes Poloshirt.

Die manipulierten Bremsen hatten die Sache ins Rollen gebracht. Nun, zunächst hatten sie das Auto eines Geschäftsmannes auf einem Feldweg beim Gierenberg ins Rollen gebracht und denselben in den sicheren Tod befördert. Sehr professionell, es brauchte schon ihren findigsten Kopf in der Kriminaltechnik, um da etwas zu entdecken. Der Tote hatte ein kleineres mittelständisches Unternehmen betrie­ben und für den Posten des Ortsrats kandidiert. Verbindungen in die kriminelle Szene hatten sie keine finden können, Feinde, die ihm den Tod an den Hals wünschten, ebenfalls nicht. Es sah nach einem dieser nie aufzuklärenden Fälle aus.

»Das progressive Moment einer Warenhausbrandstiftung liegt nicht in der Vernichtung der Waren, es liegt in der Kriminalität der Tat, im Gesetzesbruch«, hatte Schröder doziert und den verdutzten Seibert darüber aufgeklärt, dass dieser Spruch von Ulrike Meinhof stammt.

»Nichts«, wirft der Verdächtige plötzlich in den Raum, als hätte er so lange über diese Antwort nachdenken müssen.

Seibert blickt ihn verblüfft an und braucht ein Weilchen, um die Antwort der Frage zuordnen zu können. Sie hatten ihm also nichts getan. Das passt zu ihren Ermittlungen, die keine Verbindung zwi­schen dem Mordverdächtigen und den Opfern ergeben hatten. Ebenso wenig wie zwischen den Opfern.

»Warum haben Sie sie dann ermordet?« Seibert starrt sein Gegenüber nieder. Der wendet den Blick ab und glotzt aus dem Fenster. Ist das ein erstes Zeichen von Unsicherheit? Oder einfach Zufall? Seibert folgt seinem Blick, aber außer trübem Herbstnebel kann er nichts entdecken.

Den tödlichen Absturz der ambitionierten Hobby-Kunstfliegerin hätten sie trotz intensivster Untersuchungen mehrerer Behörden beinahe als Unfall abgehakt, einen Hinweis auf Fremdeinwirkung hatten sie bis heute nicht finden können. Wäre dem Pathologen nicht das Löwen-Tattoo am Steißbein aufgefallen, das er schon bei dem Geschäftsmann gesehen hatte, wer weiß? Das war der Startschuss für die SoKo »Löwenmorde«.

»Wenn irgendwo Pilze schmoren, wird der Kriminalist unwillkür­lich hellhörig«, hatte Schröder das Ganze achselzuckend kommen­tiert. Nun, wie schon erwähnt, Agatha Christie war auch Seibert geläufig.

»Warum?«, fragt Seibert noch einmal in scharfem Ton, um die Aufmerksamkeit seines Gesprächspartners vom Herbstnebel zurück zu seinen Taten zu lenken. »Es muss doch einen Grund geben, man mordet doch nicht einfach so.«

Der Verdächtige mit dem Faible für grüne Shirts dreht ihm den Kopf wieder zu. Wenigstens etwas. »Nicht?«, fragt er mit einem süffisanten Grinsen.

Seibert sackt zurück an die Lehne seines Stuhls. Tatsächlich? Hat er es hier mit einem Spinner zu tun, dessen Hobby das Töten ist? Wohlgemerkt, akribisch vorbereitetes, sauber ausgeführtes, so gut wie spurenfreies Töten. Ist das ein Wettbewerb mit der Polizei? Und wer hat bei diesem Wettkampf die Nase vorn?

Das gekenterte Boot kommt ihm in den Sinn. An der tiefsten Stelle des Dortmund-Ems-Kanals auf Lingener Höhe. Dort, wo der Kanal für gewöhnlich seine Opfer behält. Die Witwe hatte Himmel, Hölle und eine Menge Geld in Bewegung gesetzt, aber es war nur festhän­genden Resten einer Angelschnur zu verdanken, dass die Taucher an die Leiche herankamen. An die Leiche mit dem Löwen-Tattoo auf dem Steißbein. Immerhin wussten sie seither, dass die Tattoos nach dem Tod gestochen worden waren.

»Alle Verfehlungen werfen lange Schatten.« Auch diese süffisante Anmerkung Schröders konnte Seibert problemlos Agatha Christie zuordnen – Punkt für ihn.

»Tun Sie das denn? Einfach so morden, meine ich.«

Schweigen. Nicht mal ein wie auch immer geartetes Lächeln. Die Finger fahren langsam am Ärmel seiner Jacke herunter, die hinter ihm über der Stuhllehne hängt.

Seibert reißt die Augen auf, sein Magen krampft sich zusammen. Die Kollegen werden den Vogel doch ordentlich auf Waffen durch­sucht haben, kann er gerade noch denken. Trotzdem bricht ihm der Schweiß aus allen Poren und seine Hand schießt reflexhaft ans Waffenholster.

Sein Gegenüber grinst, zieht den Ärmel hoch und greift mit der anderen Hand danach.

Wie die Beute ihren Jäger beobachtet Seibert sein Gegenüber, gespannt bis in die Haarspitzen.

Stämmige Finger schließen sich um den Knopf am Ärmelabschluss, die Finger der anderen Hand zerknüllen den grob gewebten Stoff. Ein kräftiger Zug und der Knopf liegt in der einen Hand, den Ärmel lässt die andere achtlos fahren. Der Knopf wird in die Luft geschnipswohlbemerktt und landet sicher in der anderen Hand. Und wieder schnellt der jetzt nutzlose Verschluss hoch, wird von geschickten Fingern aufgefangen.

»Eigentlich nicht.«

Seibert geht die Schnipserei auf die Nerven, aber er wird den Teufel tun und sich das verbitten. Vielmehr überlegt er, ob der Mann ihm damit – bewusst oder unbewusst – etwas verrät.

Doch ein Knopf hat bisher nirgends eine Rolle gespielt. Auch nicht beim Tod des Baccumer Großbauern in seinem Futtersilo. Ein Un­fallszenario, das ja nicht ganz selten war. Immerhin herrscht in so einem Silo wohl ein sehr ungutes Klima. Seibert hatte den Rinder­braten auf seinem Teller mit anderen Augen betrachtet und sich sofort gefragt, was für ein toxisches Zeug das Tier vor seinem Ableben in sich hineingeschaufelt hatte.

Anhand des Tattoos auf dem Steißbein des zu Tode gekommenen Landwirts hatte man den Fall zum Mord erklärt und dem Löwen­mörder zugeordnet. Was das Rätselraten um die Zusam­men­hänge nur weiter vergrößert hatte.

»Sturheit ist die Energie der Dummen«, war Schröders Kommentar gewesen. Das mochte treffen, denn der tote Landwirt galt als stur. Aber dumm war er sicher nicht gewesen. Leider musste Seibert hier passen – und sich aufklären lassen, dass dieses Zitat Ephraim Kishon zuzuschreiben war.

»Ich hätte gern ein Glas Wasser.«

Die kratzige Stimme seines Gegenübers reißt Seibert aus seinen Gedanken. Argwöhnisch mustert er die Miene des Verdächtigen und beauftragt dann knapp einen Kollegen. Mit unbewegter Miene und einem kaum hörbaren »Danke« nimmt der Mann das Wasser entgegen und stürzt es auf ex hinunter. Anschließend setzt er das leere Glas leise auf dem Schreibtisch ab, fährt sich mit der Hand über den Mund und stößt geräuschlos auf.

»Warum haben Sie diese Menschen umgebracht? Sie haben sie doch umgebracht, oder wollen Sie das leugnen?«

Der Verdächtige nickt, sieht dann auf und bedenkt den Kommissar mit einem verschlagenen Lächeln. »Das lässt sich wohl kaum leug­nen. Und ich will es auch gar nicht leugnen.«

Seibert seufzt. Er kommt hier nicht weiter. Aber – ein Geständnis hat er ja nun. Reicht das nicht?

Nein, tut es nicht. Er will wissen, warum der Kerl die Leute umge­bracht hat. Und er will wissen, ob es noch mehr Opfer gibt. Das schuldet er den Angehörigen. Auch der Familie des Architekten, auf dessen spektakulären Sturz vom Baugerüst des Prestige-Hochhaus­projekts sich die Presse wie die Geier gestürzt hatte. Um das Projekt zu zerreißen. Um den erfolgreichen, aber mit nicht ganz weißer Weste ausgestatteten Architekten zu zerreißen.

Nachdem es bei diesem Fall Zuständigkeitsgerangel verschiedener Dienststellen gegeben hatte, hatte es ihn und sein Team verdammt viel Einsatz gekostet, den Mann aus seinem Grab holen zu dürfen. Ihm, Seibert, war ein ganzes Gebirge vom Herzen gepoltert, als der Pathologe das Bild schickte. »Und täglich grüßt das Löwen-Tattoo vom Steißbein«, hatte er gemurmelt, aber am missbilligenden Blick des Kollegen gleich erkannt, dass er das mit dem Zitieren lieber Schröder überlassen sollte.

»Die Kriminalität nimmt unaufhaltsam zu. Wir stehlen uns sogar aus der Verantwortung.« Die Anspielung auf die kurz zuvor abge­wehrte Schadenersatzklage gegen den nun toten Architekten hatte Seibert verstanden, doch Schröder musste ihm insofern auf die Sprünge helfen, dass es sich hierbei um ein Zitat des deutschen Politikers André Brie handelte. Ein Autor, der ihm völlig unbekannt war.

»Ich kenne die Leute gar nicht, die ich umbringe.«

Seiberts Herz setzt einen Schlag aus, um dann umso rasender Fahrt aufzunehmen. Ein Auftragskiller! Das ist ihnen überhaupt noch nicht in den Sinn gekommen. Aber es ist die einzig logische Erklärung. Er öffnet den Mund zu einer weiteren Frage.

»Kleiner Nebenverdienst, Sie verstehen – hier mal ein schöner Urlaub, da mal ein kleines Geschenk für die Frau, dort mal ein heißbegehrtes Spielzeug für die Kinder.«

»Und dafür töten Sie? Nicht nur einmal, mindestens sechs Menschen? Oder waren es noch mehr?«

Seiberts Gegenüber zuckt emotionslos mit den Achseln. »Die werden’s schon verdient haben. Irgendwie jedenfalls.«

Seibert muss sich davon abhalten aufzuspringen, den Kerl am Kra­gen zu packen und ordentlich durchzuschütteln. »Für wen machen Sie das? Wer ist Ihr Auftraggeber? Oder wer sind die Drahtzieher hinter diesen Morden?«

»Oh, Sie werden verstehen, dass in unserer Branche Diskretion zu den höchsten Gütern zählt.«

Seibert würde den Typen gern in seine Visage treten. Unver­bindliches Businesslächeln. Es kotzt ihn an. Was die junge Millionen­erbin wohl dazu zu sagen hätte, die auf so grauenvolle Weise zugerichtet war? Vom Zug über hunderte Meter mitgeschleift, bis der Lokführer das Ungetüm endlich zum Stehen bringen konnte. Dieser Mord war dem Killer allerdings zum Verhängnis geworden. Mit der inzwischen bekannten akribischen Genauigkeit hatte er sich exakt den Bahnsteigbereich im geschichtsträchtigen Lingener Bahn­hof aus­gesucht, der außerhalb des Sichtwinkels der Überwachungs­kameras lag, um die Frau frühmorgens vor die Räder des durch­rauschenden Fernzugs zu stoßen. Dumm für ihn, dass am Abend zuvor ein Tech­niker etwas in unmittelbarer Nähe einer Kamera zu reparieren hatte. Dafür hatte er die im Weg befindliche Kamera zur Seite gedreht und anschließend vergessen, sie wieder zurückzu­drehen. Bis das beim morgendlichen Dienstantritt jemandem auffiel, waren Stoß ins Gleisbett und Gesicht des Täters bereits aufge­zeichnet.

Das Glück der Tüchtigen sei auf ihrer Seite gewesen, hatte Seibert sich und sein Team gelobt, als die Handschellen klickten. Und trotzdem sitzt ihm noch immer das schlechte Gewissen im Nacken. Hätte nicht ein wirklich dummer Zufall Pate gestanden, würde das Morden wohl munter weitergehen. Bekanntlich können Menschen ja von kleinen Zusatzeinkünften niemals genug bekommen.

»You can’t have 100-percent security and also have 100-percent privacy and zero inconvenience«, hatte Schröder seiner Freude über den unerwarteten – und unverdienten – Fahndungserfolg Ausdruck verliehen, um dann nachzuschieben: »I don’t want to live in a world where everything that I say, everything I do, everyone I talk to, every expression of creativity or love or friendship is recorded.«

Jetzt wurde es kritisch, um nicht zu sagen kryptisch. Seibert war schon immer ein guter Polizist und ein guter Kriminaler gewesen, aber mit Fremdsprachen hatte er es so gar nicht. Folgerichtig hatte er Schröders Kommentare geflissentlich ignoriert, bis der sich bequemte, ihm zu übersetzen, was er aus den Werken des früheren US-Präsidenten Barack Obama und des Whistleblowers Edward Snowden gezogen hatte.

»Und was soll dieser Löwentick?« Mehr wird Seibert heute nicht aus dem Mann herausbringen, das hat er im Gefühl. Dann we­nigstens noch ein paar Randumstände klären.

Sein Gegenüber bricht in lautes Gelächter aus. »Darüber machen Sie sich Gedanken? Ernsthaft?« Er hat Mühe, die Fassung wieder­zugewinnen.

Seibert schießt ihm einen vernichtenden Blick zu. Es macht ihn fuchsig, dass dieses Subjekt sich erdreistet, ihre mühsame Arbeit der letzten Wochen zu belächeln.

»Nun, Sie sind sicher schon dahintergekommen, dass meine Morde immer wie Unfälle aussehen. Hier mal ein gekentertes Boot, dort ein Flugunfall, da kaputte Bremsen am Auto.«

Seibert nickt und fragt sich erneut, wie viele Ermordete als be­dauernswerte Unfallopfer beerdigt wurden.

»Mein Berufsethos zwingt mich, zum einen nachzusehen, ob alles geklappt hat, zum anderen eventuelle Spuren zu verwischen und schließlich zu prüfen, ob es bei diesem fingierten Unfall auch die richtige Person erwischt hat. Denken Sie nur an Frau Rohlinger – die Arme hat den präparierten Wagen ihres Mannes genommen und sich damit ins Jenseits befördert. Bedauerlich, ein unglücklicher Zufall und daher nicht vermeidbar, Sie verstehen?«

Seibert zieht die Augenbrauen hoch. Diesen Todesfall müssen sie noch auf die Liste setzen – und damit gab es Mord Nummer sieben. Was für ein Arschloch! »Ach so, wenn Sie Ihre To-do-Liste ordentlich abgearbeitet haben, dann stechen Sie Ihren bedauernswerten Opfern noch schnell einen Löwen aufs Steißbein?«

»Das Tätowieren ist mein Hobby. Ich bin gut darin, wissen Sie? Und ich muss schon bitten! Das ist nicht einfach ein Löwe, sondern ein stilisiertes – perfekt stilisiertes, will ich meinen – Abbild des Lingener Wappentieres. Das Häkchen hinter der erledigten Aufgabe. Für meine Auftraggeber die eindeutige Aufforderung zur Zahlung. Für die Hinterbliebenen ein kleiner Hinweis, dass der Schnitter nicht ganz freiwillig vorbeikam.«

Seibert schüttelt den Kopf. Er ist am Ende seiner Nerven. Was mochte in so einem Gehirn vor sich gehen? Verdammt, er lässt die Fälle schon wieder – wie in seinen Anfangsjahren – zu sehr an sich heran. Für heute schließt er die Vernehmung und setzt sein Team in kurzen Worten über das Ergebnis ins Bild. Alle schweigen. Betroffen, fassungslos, vielleicht auch verärgert, weil sie nicht auf die Idee gekommen sind, dass sie es mit einem Auftragskiller zu tun haben könnten.

»Erstaunlich«, sagt Kollege Schröder nach einem nur mühsam  unterdrückten Gähnen, »dass der Mensch nur hinter seiner Maske ganz er selbst ist.«

Das kommt Seibert bekannt vor, musste von Poe oder von Oscar Wilde stammen. »Edgar Allan Poe!« Er wählt die Fünfzig-Prozent-Chance. Schröder nickt und gönnt ihm einen anerkennenden Blick. Seibert dreht sich mit dem Stuhl in Richtung des Kollegen und grinst ein wenig schief. »Bei dem hier frage ich mich allerdings, welche Seite die vor und welche die hinter der Maske ist.«

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© Bildrechte liegen bei Konrad Schweiger

Karin Schweiger

(*1958); ich widme mein Berufsleben den Texten: als Übersetzerin und Fachbuch­au­torin, in Pressearbeit, Lektorat und Re­daktion. Mein belletristisches Debüt gab ich als Mitautorin des Tierkrimis „Wo ist Nr. 245?“, inzwischen sind einige Kurzge­schich­ten von mir in Anthologien erschienen.

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