05.07.2025

Papa war hier auch mal Kind

Tobias Meiners

Es ist dunkel, mir ist kalt, ich bin müde. Meine Hand steckt zwischen Gitterstäben gefangen. Keine Chance sie zurückzuziehen. Das Gefühl kenne ich - so saß ich damals mit dem Kopf in der hölzernen Brüstung des Spielturmes am Neuen Friedhof fest. Hinein konnte ich, zurück nicht. Meine Mutter wollte mich mit einer Bügelsäge rausschneiden, auf einmal ging es dann doch. Jetzt sitze ich hier auf dem eisigen Boden, und bis auf eine immer wiederkehrende kurze Melodie ist es still im Raum. Ist sie wirklich da oder ist sie nur in meinem Kopf? Egal, ich werde sie sowieso mein Leben lang nicht vergessen, so eindringlich wiederholt sie sich in kurzen Ab­ständen. Wie lange sitze ich hier schon? Ich weiß es nicht.  Ist es noch heute oder schon morgen? Ich habe kein Zeitgefühl mehr. Ich versu­che mich zu bewegen, mein Rücken schmerzt und mein Nacken erst. Ich muss leise sein, nicht hörbar, ansonsten… Ich will gar nicht daran denken. Ich zähle ein weiteres Mal von hundert herunter, diesmal schneller. Ich spüre, wie meine Hand gelöst wird und ich sie endlich aus dem Gitter zu mir ziehen kann. Langsam, geräuschlos - geschafft. Ganz vorsichtig und ohne ein Geräusch zu machen muss ich mich aus dieser Lage befreien. Ich löse mich aus meiner Position, schiebe mich nach vorn und krieche auf allen Vieren über den kalten Boden, langsam, leise, wie eines dieser Faultiere, das eine Straße über­que­ren will. Ich kenne jede Stelle blind, auf die ich nicht treten darf. Zu oft knarzte der Boden.

Mit geschlossenen Augen entfliehe ich der Situation, auf einmal hellwach, mein Herz schlägt schnell. Ich kann das Pochen in meinem Kopf spüren. Ich bin aufgeregt, in etwa wie damals bei Jobmann, als es hieß, jetzt fordern die Jungen die Mädchen zum Tanz auf, und keiner hat sich bewegt. Ich halte kurz inne. Die Melodie ist noch da, ansonsten bleibt es ruhig. Weiter, immer weiter, bis zur Tür. Immer wieder stillstehend und horchend. Ich erreiche mein Ziel, kann mich aufrichten. Soweit habe ich es schon lange nicht mehr geschafft. Euphorie durchfährt meinen Körper. Mit geschlossenen Augen fasse ich zielgerecht die Türklinke. Ich senke sie gerade genügend, um sie zu öffnen - ich weiß genau, wann sie zu quietschen anfängt. Die Tür lässt sich öffnen. Oh nein! Es dringt Licht ins Zimmer, ein schwacher Schein! Ich habe das Gefühl, der Raum wird geflutet von Helligkeit. Was tun? Schnell sein? Nein, zu riskant. Ich verbleibe in der Situation und rühre mich nicht. Erst hören, ob es still bleibt. Oh Mann, jetzt ist die Melodie auch noch aus! Wirklich aus. In meinem Kopf läuft sie weiter, aber hören tue ich sie nicht mehr. Mein Herz schlägt noch schneller. Es bleibt aber still. Dieses Mal schaffe ich es. Ich öffne die Tür weiter, drücke meinen Körper durch und mache einen Schritt in den Flur, dann…KNACK!!...Das Fußgelenk macht ein Geräusch - lauter war wohl nur der Marktschreier, früher auf der Kirmes, der jedem eine Pflanze aufgedrückt hatte, der ihm in die Augen gesehen hatte. Nicht bewegen, vielleicht ist es gut gegan­gen. Was war das? Ich drehe mich um, sehe ins schwach erleuchtete Zimmer und höre: „Papa? Wo willst du hin?“

Diese schlaflosen Nächte sind doch nur eine Phase. Sie gehen vorbei. Dann kommt zwar die nächste, aber diese geht erstmal vorbei, oder? War man darauf vorbereitet? Sicherlich nicht. Ich meine, die Nächte hat man sich früher auch um die Ohren geschla­gen? Um 5 Uhr noch ein Döner bei Bospe anstatt zu schlafen oder eine Heiße Hexe bei Aral?  Kein Problem. Wo sind die Zeiten hin? Als man sich freitags an diesem einen bestimmten Kiosk getroffen hatte, um sich für den Abend einzudecken, für das Vorsaufen und danach ab in den Joker. So lange ist es her, noch nicht mal Perso­nalausweise hatten wir. Nachdem man dann drin war im Tanztempel am Schwar­zen Weg und die Jacke irgendwo gelassen hatte, ab an die Altbier­theke - das dortige Alt-Schuss schmeckte furchtbar, das hatten wir aber nicht gesagt, sondern stets das getrunken, was man in die Hände bekommen hatte. Manchmal auch im Doppelpack, bis das Licht anging und man sich noch eine Pizza mitnahm, ohne zu wissen, was drauf war. Jetzt haben wir unsere Rucksäcke gefüllt mit Feucht­tüchern, Maisstangen, geschnittenem Obst und Flaschen mit klarem leckerem Leitungswasser – mmhhh -, eine mit Bibi und Tina oder Paw Patrol drauf. Dass in diesem Rucksack mal eine Flasche Cola-Korn lag, als man unterwegs zum Kiebitz war, um den 1. Mai zu feiern, ist eine Weile her. Im Extrablatt bestellte man nun eine kleine Apfelschorle und nicht den Long Island Ice Tea an einem Don­nerstagabend. Ich weiß noch, wo es war, als ich realisierte, dass ich in Zukunft eher mit Wickeln beschäftigt sein würde, als Korn mit Brause zu trinken. Es kommt mir vor, als wäre es gestern gewesen.

Ultraschalluntersuchung. Da sitzt man ziemlich verloren und mit Blick aus dem Fenster im Wartezimmer des Frauenarztes, um das erste Mal bei der Ultraschalluntersuchung dabei zu sein.  Aufgeregt wie früher, als man bei Adelmann stand und man diese Masse an Spielwaren zu sehen bekam. Mit der Hoffnung, dass man vielleicht eine Kleinigkeit bekäme. Hier der Unterschied - es ist nicht Super Mario Land 2 für den Game Boy, sondern ein Foto deines ersten Kindes.  Aber jetzt sitz ich hier gerade ganz allein. Meine Frau ist schon zu der Untersuchung weitergezogen, alles selbstverständlich – nur für mich nicht. Man(n) bleibt zurück, irgendwie verloren, maximal eingeschüchtert. Die Tür geht auf, zwei Nonnen setzen sich mir gegenüber. Ihre Blicke sagen, was will denn der Typ hier? Das ist hier unser Tanzbereich.

An der Wand ein Dünenbild, weiße sterile Raufaser dahinter. Es riecht, wie eine Arztpraxis riecht. Auch den Klingelton des Telefons kenne ich - wie bei Dr. Stegmann früher. Als ich montags mit dickem Knöchel die ganze Kreisklasse im Wartezimmer getroffen hatte, um später nach einem festen Druck auf die dunkel­blaue, geschwollene Stelle am Knöchel die Diagnose „Ist nur eine Prellung“ bekam. Da kannte ich mich mit aus - aber Gynä­kologe?! Das ist neu. Nicht falsch verstehen, natürlich wollte ich dabei sein – keine Frage. Ich wollte auf den Bildschirm gucken und rätseln: Junge oder Mädchen? „Es ist doch nur eins, oder?“ sagen, den Herzschlag hören. Unbedingt. Viel später erst wurde mir bewusst, dass es nicht die Regel ist, dort mit nur diesen positiven Gedanken zu warten und nicht mit Sorgen oder auch Angst. Wenn eben nicht alles in Ordnung ist.

Nun sitze ich hier mit der Handtasche meiner Frau auf meinem Schoß und fühle mich wie damals an der Kasse bei Delta, als meine Mutter noch etwas im Laden vergessen hatte und mich quasi als Pfand hatte stehen lassen, um eben noch eine Packung Zwiebäcke zu holen. Endlich ist sie wieder da - also meine Frau. Nicht meine Mutter mit Zwiebäcken.

Es kann losgehen. Ich verabschiede mich bei den Ordens­schwes­tern, diese tuscheln und kichern. Das macht es nicht besser. Nochmal kurz warten auf dem Flur und dann rein zum Gespräch mit der Ärztin. Es ist großartig - so positiv, beruhigend und vertrauensvoll. Viel Glück, viel Lachen und dann geht es weiter zur Untersuchung. Schön in der Ecke stehen bleiben - wie als männliche Begleitung beim Shoppen, wenn man versucht nicht aufzufallen und man bei Grabein in der Unterwäscheabteilung bepackt mit Jacken und vielen Taschen einfach nur auf den Teppich schaut, bis man gerufen wird. Schnell fallen die Worte, die ich hören möchte: „Das sieht doch alles prima aus!“, und dein Leben steigt von jetzt auf gleich in eine andere Liga auf. Da sieht man den Kopf, die Arme, die Beine, das Blut fließt regelmäßig durch das pumpende Herz. Man hört das Herz schlagen. Ein Moment puren Glückes – einer, der alles verändert. Jetzt, mein Junge, wird es Zeit erwachsen zu werden!

Es dauert neun Monate, bis ich ein weiteres Mal hilflos und kom­plett überfordert neben meiner Frau stehe und versuche, nichts Fal­sches zu tun oder zu sagen, bis das Baby dann endlich auf der Welt ist und mich mit dem ersten Schrei dieses riesige Verantwor­tungs­bewusstsein durchfährt: VON JETZT AN ZU DRITT!

Sind wir ehrlich: Kinder sind was Wunderbares. Johann König schreibt, man muss es nur oft genug sagen, aber im Ernst - es ist toll, wohl das Beste, was mir widerfahren ist. Zumindest sage ich dies, bis ich wieder nachts am Bett sitze und zum tausendsten Mal die Spieluhr aufziehe. Die Welt wird dir neu erklärt. Die Frage nach einem großen Sinn, wird dir jetzt beantwortet. Wir dürfen dabei sein, beim Erwachsenwerden. Versuchen unser Bestes beim Erziehen, da­bei wird man doch eher selbst erzogen. Man versucht, sich zu erin­nern, wie man selbst aufgewachsen ist. Hier in Lingen. Räuber und Gendarm auf der Wilhelmshöhe spielen, Softeis mit dieser dünnen Schokoladenglasur bei Lobenberg, diese leckeren Freibad­Pommes im Sommer auf glühend heißen Waschbetonplatten, Schlittschuhlaufen auf dem Telgenkampsee bis es dunkel wird, der Geruch im Hallenbad am Nordring und danach die gemischte Tüte unten am Kiosk für 1,50 DM, die Rutsche hinter der Kasse bei Brackmann, oder die Rutsche auf dem Parkhügel, Samstagabend beim Jägerstübchen Essen holen, der Geruch liegt noch immer in meiner Nase – oder sind es meine Klamotten? Die kleine Eisenbahn draußen bei Adelmann zu Weih­nachten, der Geruch von frisch aufgeplopptem Popkorn im Burgkino, bevor man sich Bernard und Biancaangesehen hat. Oder die grünen Drehstühle im Theater, welche es noch immer gibt. So viele gute Erinnerungen. Nun gilt es, das Erlebte weiterzugeben. Ich stehe jetzt am Speicherbecken und zeige, wie man einen flachen, runden Stein über das Wasser tanzen lassen kann. Stehe am Becken­rand im Frei­bad und zeige, wie man einen Köpper macht, um dann von den Kin­dern gesagt zu bekom­men, dass man das hier ja gar nicht darf. Was bleiben unseren Kin­dern für Andenken? Der In­doorspiel­platz beim Bäcker im Möbel­haus? Wie kalt es im Rutschen­turm im Linus immer war? Gusti Gans? Der große Kinosaal an der Wilhelms­höhe? Die riesigen Eisku­geln vom Eiscafé, der tolle Spiel­platz im Emsauenpark? Vielleicht ja auch die 1050-Jahr-Feier im Sommer 2025?

Es bleiben Erinnerungen. Bewahren wir sie, indem wir über die gute alte Zeit reden und gleichzeitig das Jetzt gestalten, so dass unsere Kinder in Zukunft mit den gleichen funkelnden Augen über Ihre Erlebnisse in dieser Stadt berichten können.

An meine Kinder - ich freue mich darauf, euch dann zuzuhören. Und immer wieder werde ich diese Melodie der Spieluhr summen, die uns damals vergeblich in den Schlaf begleiten sollte. Danke.

 

© Bildrechte liegen bei der Einsenderin / dem Einsender.
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Tobias Meiners

Ich bin Tobias, geboren 1984 in Lingen. Hier wuchs ich mit drei älteren Geschwistern auf. Nach meiner Schul- und Lehrzeit in Lingen, studierte ich später Architektur in Münster. Unsere Stadt hat mich nie verjagt, so wohne ich hier mit meiner wunderbaren Frau und unseren beiden groß­artigen Kindern.

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