05.07.2025

In einem Land vor unserer Zeit

Lisanne Astrid Dornoff

Die in meiner Erinnerung immer schon eher gelbliche als weiße Blumentapete an der Wand hängt noch immer hier. Dabei hatte Opa nie Gefallen daran gefunden. Wahrscheinlich konnte er sie, als Oma noch lebte, wegen ihr nicht abreißen. Und als sie dann vier Jahre vor ihm verstarb, an einer schweren Lungenerkrankung - dabei war er der Raucher gewesen - war die Tapete zu einem Denkmal dafür geworden, dass sie alles für den anderen ertragen hätten.

Er, der Ordnungsliebende. Sie, die Chaotikerin. Er, der sich schon am Morgen auf den Abend freute - genauer gesagt auf das Intervall zwischen 8 Uhr und 8:15 Uhr, wenn er die Tagesschau einschalten würde, jedes Jahr zehn Dezibel lauter, währenddessen er sein Tabaktütchen, die kleinen durchscheinenden Plättchen – Milchpapier nann­ten wir es als Kinder, worauf Oma schimpfte, weil wir mit dem Rauchen gar nicht erst in Kontakt kommen sollten - und die Filter herausholen und leise summend seine Zigaretten rollen würde. Oma hatte sowieso in dieser Zeit die schlimmsten Minuten ihres Tages: Hören, was wieder alles schlecht läuft auf der Welt, obwohl man es ja sowieso nicht ändern konnte. Und den Worten entfliehen bei dem Pegel, der bei Opas immer schlechter werdenden Ohren aus dem Fernseher kam, konnte sie auch nicht. Dagegen konnte auch ihr geliebter Udo Jürgens, den sie jeden Tag auf dem CD-Spieler rauf und runter hörte, nicht ansingen. Und wenn dann wieder „Ich weiß, was ich will”, lief, die Nummer drei auf dem „Best of”-Album, dann riss sie nach dem Refrain gerne die quietschende alte Holztür zum Wohnzimmer auf, wo er zufrieden summend auf seinem Sessel saß, und schrie: „Ich auch, aber ich krieg`s trotzdem nicht.” Ich weiß nicht, ob er sie bewusst ignorierte. Oder ob er sie wirklich nicht hörte. Vielleicht war der eine Zustand auch in den anderen übergangen.
Oma und Opa, da war das Sprichwort „Was sich liebt, das zankt sich“ wahr geworden. Auch, wenn wir von der Liebe nicht so viel sahen. Er war Mitte zwanzig, sie gerade mal neunzehn, als die beiden geheiratet hatten. Spät war meine Mama auf die Welt gekommen, da war Oma schon vierunddreißig, und selbst hatte Mama mich auch erst mit Ende dreißig bekommen. Bei so vielen Jahren Ehe, dachte ich mir immer, kein Wunder, dass das Feuer da nicht mehr so brannte.

Der Gedanke war noch nicht richtig in mein Bewusstsein gesickert.
Opa tot. Papas Großeltern waren schon lange verstorben. Die hatte ich kaum kennengelernt. Aber Opa, obwohl er in Bad Bentheim gelebt und wir wegen Papas Arbeit in Trier aufgewachsen waren, war immer präsent gewesen. Er hatte sich trotz der unmöglichen Zuganbindung nach Trier – wie konnte eine 100.000-Einwohner-Stadt keinen Fernverkehrsanschluss haben? - immer wieder auf die lange Odyssee zu uns gemacht. Und wenn wir, als er die neunzig schon überschritten hatte, in Sorge waren, dass die Reise zu anstrengend für ihn sein könnte, sagte er: „Kinder. Homers Odysseus hat zehn Jahre gebraucht, um ans Ziel zu kommen. Bei mir sollte das mit drei Umstiegen und sieben Stunden und sechsundvierzig Minuten ein Klacks sein.“ Und wirklich war er jedes Mal, wenn wir ihn am Hauptbahnhof in Trier abholten, so munter, als wäre er gerade erst losgefahren. Nur das Rauchen, das hatte er vermisst.

Ich seufze, während ich eine alte Pappschachtel aus der allerhintersten Ecke ziehe. In einer alten Jogginghose sitze ich im Schneidersitz auf dem Dachboden. Und ich denke mir noch: Was immer da drin ist. Wichtig kann es nicht sein, wenn es so lange keinen gekümmert hat. Und wische mit einem feuchten Lappen über den Deckel. Dann hebe ich den Deckel an. Darunter kommt eine Sammlung von alten Fotografien zum Vorschein. Auf der Rückseite die Jahreszahl und der immer gleiche Text: „Der Engel und ich.“ Datiert sind die Bilder auf einen Zeitraum zwischen 1941 und 71. Da muss Opa zwischen zehn und vierzig Jahren alt gewesen sein. Und 1971, das war auch das Jahr, in dem meine Mama, sein einziges Kind, geboren wurde. Auf einem anderen Bild sieht man diebeiden beim Scrabble-Spielen. Ein­­­­mal stehen sie vor einem Geschäft, beide mit einer Eiswaffel und jeweils drei aufeinander getürmten Kugeln in der Hand. Im Hintergrund sind Modepuppen und Stoffballen zu sehen. Über dem Eingang steht groß: Wilhelm Roth. In einer anderen Fotografie sitzen sie mit einem Krug in der Hand an einem kleinen Tisch vor etwas, das wie eine Gaststätte aussieht. Auf dem Fachwerk kann man Verschnörkelungen, die wie aneinandergereihte Violinschlüssel aussehen, und Blumenmotive erkennen. Am Balken über ihnen kann ich noch gerade so die Aufschrift: „AETEN UN DRINGEN HOLT LIEF“ lesen. Was auch immer das bedeutet. Das allererste Bild der Sammlung, aufgenommen 1941, zeigt die beiden in kurzer Hose, Hemd und Krawatte. Sie stehen mit anderen Jungen, alle ungefähr im gleichen Alter, in einer ordentlichen Reihe. Sie haben die Brust rausgestreckt und das Kinn gehoben. An dem linken Ärmel ist ein Dreieck aufgestickt. Darauf steht in verschnörkelter Schrift: DJV Lingen. In Lingen hat Opa bis zum Beginn seines Studiums in Hannover gelebt. Und unter dem Dreieck: Ein Kreis mit einem Blitz. Ich schaue das Bild lange an. Es ist so komisch, meinen Opa, meinen süßen, lieben, herzlichen Opa als kleinen Jungen in dieser strengen Uniform zu sehen. Und all die anderen Jungen auch. So sollten Kinder nicht aussehen. Neben Opa erkenne ich „den Engel“ als kleines Kind wieder. Die beiden stehen am Rande des Bildes, und ich sehe, beim zweiten Hinschauen, versteckt, wie ein kleines, verstohlenes Lächeln von einem zum anderen gesendet wird. Doch so unterschiedlich nicht nur die Zeit, sondern auch die Umgebung auf den Bildern ist, so haben sie doch alle eins gemeinsam: Ich habe meinen Opa noch nie so glücklich gesehen. Vielleicht mit uns. Aber da hat sich das immer anders angefühlt, irgendwie. Und mit Oma? Ich kann nicht genau beschreiben, was ich denke, wenn ich in diese glitzernden, strahlenden Augen schaue. Aber ich weiß genau: Ich möchte wissen, wer dieser Mensch war, der Opa so wichtig war? Und warum er uns nie von ihm erzählt hat. Von seinem „Engel“. Aber wo anfangen? Ich gehe die Bilder noch einmal durch. Und kann nun, im Hintergrund, auf mehreren Bildern Schienen und auch immer wieder Teile von etwas ausmachen, das wie eine Lokomotive aussieht. Und immer daneben: Der Engel in Arbeiterkleidung. Ich recherchiere im Internet und stoße schnell auf das Eisenbahn-Ausbesserungswerk in Lingen. Ob ich hier Antworten bekommen werde?

Zwei Stunden später steige ich aus dem Zug und betrete zum ersten Mal Lingener Boden. Und bin überrascht, dass Bahnhöfe auch schön aussehen können. Das bin ich von Trier nicht gewöhnt. Eine Fassade mit Steilgiebel (das musste ich googeln) habe ich zuvor auch noch nie gesehen. Und überhaupt so viele Giebeldächer. Ich würde schon jetzt gerne einen kleinen Stadtausflug machen. Ich möchte den Ort, in dem mein Opa die ersten Jahre seines Lebens verbracht hat, und zu dem er, so beweisen es die Bilder, immer wieder zurückgekehrt ist, kennenlernen. „Opa, warum hast du uns nie von Lingen erzählt?“, möchte ich ihn fragen. Und so vieles mehr.

Ich laufe aus dem Bahnhofsgebäude heraus. Nach rechts, am Theo-Lingen-Platz vorbei, dann durch eine Unterführung, die die Innenstadt mit dem östlich gelegenen Strootgebiet verbindet. Am Ende des Weges, Ecke Kaiserstraße, wende ich mich nach rechts und finde mich kurz darauf in etwas wieder, dass eher einer Kunsthalle als einem Eisenbahnwerk ähnelt. Ich spreche die erstbeste Person, eine ältere Frau, an. Die muss erstmal lachen, als ich ihr erzähle, dass ich hier eigentlich Metallklirren, schlechte Luft und Schienen, wohin das Auge reicht, erwartet habe. „Das haben wir hier schon seit 1985 nicht mehr“, klärt sie auf, und fährt fort, als sie mein enttäuschtes Gesicht sieht: „In der Vergangenheit jedoch war die Werkstatt etwa einhundertzwanzig Jahre lang ein Knotenpunkt für alle Züge der Region. In den besten Zeiten wurden über tausend Mitarbeiter beschäftigt.“ „Und wieso dann die Schließung?“, frage ich zurück. „Der technologische Fortschritt. Nach der Dampflok kam die Diesel- und dann die Elektrolok. Und da wurden weniger Wartungen benötigt. Und in den Siebzigern kamen dann immer mehr Elektrotriebzüge. Und damit fährt man auch noch heute, wenn man sich in den ICE setzt.“ Die Frau, die im IT-Bereich der Hochschule arbeitet und zu meinem Glück ein Faible für Historisches hat, empfiehlt mir mit einem Augenzwinkern das Emslandmuseum. „Da wirst du alles erfahren über unser schönes Lingen, die größte Stadt im Emsland“.

Nach fünfzehn Minuten Fußweg stehe ich vor dem halbmondförmigen Glaseingang, der ins Innere des besagten Emslandmuseums führt. Ich trete drei Schritte zurück und betrachte das Gebäude ein paar Sekunden. Es vereint in seinem Erscheinungsbild das Historische – das ist der backsteinerne Deckel des Gebäudes - mit dem Modernen – das ist die darunterliegend eingefasste Glasfront. Das Kombinieren von Alt und Neu war mir auch schon bei dem ehemaligen Schienenwerk aufgefallen, und ich glaube, ich habe mich ein bisschen in die Lingener Architektur verliebt. Ich bezahle den Eintritt und beginne meinen Rundgang durch das Museum. Bei einer Infotafel über den Zweiten Weltkrieg bleibe ich länger stehen. Ich sehe Fotografien, die das Leben der Kriegsgefangenen in den Emslandlagern zeigen. Es schockiert mich, dass es hier auch ein Konzentrationslager gab.
     Und ich lese einen Bericht über den sogenannten „Rosa Winkel“: Ein Symbol, das homosexuelle Männer in Konzentrationslagern über ihrer Häftlingskleidung tragen mussten, und das dadurch an einem Ort, der sowieso schon jeder Menschlichkeit entbehrte, zusätzlichen Hass schürte. Nicht nur durch die SS-Wachen, sondern auch von Seiten der Mitgefangenen. Mein Mund ist plötzlich trocken, und ich spüre meine Hände kalt und schwitzig werden. Ein paar Schritte weiter sehe ich eine Miniaturdarstellung des Ausbesserungswerkes. Und darin hunderte Männer, jeder von ihnen keine zwanzig Zentimeter groß, in grauen Overalls. Ich schließe meine Augen und versuche mich in diese Zeit zu versetzen: Wir haben das Jahr 1950. „Der Engel“ (ich weiß ja noch immer nicht, wie er wirklich heißt) ist etwa zwanzig Jahre alt. Der Zweite Weltkrieg ist gerade vorbei. Er beginnt morgens um sechs seine Schicht. Inspiziert die Motoren, die Bremsen, die Achsen und alle Komponenten der Lokomotive, die dazu gehören. Das erfordert Präzision und eine Leidenschaft für die Technik. Und harte körperliche Arbeit. Plötzlich habe ich wieder das Bild vor Augen, das die beiden beim Scrabble spielen zeigt. Und ich versuche mir vorzustellen, wie dieser Mann in der Mittagspause einen Roman liest. Oder einen Brief schreibt. Und es passt zu den Bildern, die ihn mit Opa zeigen. Aber es passt nicht zu dem Beruf. Und vor allem nicht zu der Zeit.

Ich schaue weiter und sehe an der Wand hängend ein in Glas eingefasstes Dokument: „Auszeichnung für langjährige und zuverlässige Mitarbeit in der Ausbesserungswerkstatt Lingen“. Und darunter das Bild eines Fabrikmitarbeiters, den ich als Opas Freund identifiziere.
In der Bildunterzeile steht: Engelbert Köppler. Das Rätsel um den Namen ist gelöst! Neben dem Dokument ist ein Zeitungsartikel der „Emsländische[n] Zeitung“ abgebildet. Darin wird von dem Bau von Arbeiterwohnungen, benannt als „Langen Jammern“, für die ansteigende Industrie berichtet. Gedacht sind die Wohnungen vor allem für die Zuckerfabriken und die Eisenbahnwerkstatt. Darauffolgende Artikel zeigen Bilder der fertiggestellten Anlagen. Kleine Fachwerk­häuser, aneinandergereiht, in denen mehrere Familien in bescheidenen Verhältnissen leben konnten. Und ich meine, ein Gebäude in der Georgstraße besonders gut von einer der Fotografien wiederzuerkennen.

Ich laufe wieder die Burgstraße zurück, durch die Unterführung, und erreiche die Georgstraße. Die mir seltsam bekannt und zugleich vollkommen fremd vorkommt: Ich erinnere mich an die Fotografien, in denen am Anfang der Georgstraße, wenn man vom Bahnhof herkam, ein großes, stattliches Gebäude zu sehen war. Und davor: Eine prachtvolle Gartenfläche, die von einem gepflasterten Rondell begrenzt wurde, dass den Transport vom und zum Gebäude – es diente damals als Landratsamt– ermöglichen sollte. Die Grünfläche und das Rondell, jetzt jedoch asphaltiert, stehen noch immer hier. In dem Gebäude selbst sitzt jedoch nicht mehr der Landrat, sondern die Polizei.

Ich führe meine Wanderung fort und bin schon etwas aufgeregt. Die Arbeiterwohnungen sollten bald kommen. Doch anstelle des dunklen Fachwerks, das sich gleichmäßig über die gesamte Häuser­fassade zieht, nur unterbrochen von weißen immergleichen Sprossenfenstern, steht hier - ein Aldi-Parkplatz. Ich muss einen Moment stehenbleiben. Meine Füße tun weh, sind voller Blasen von dem vielen Laufen, und mein Magen grummelt. Sollte meine Reise hier enden? Ich habe Dreck aufgewirbelt. Dinge, von denen Opa nie wollte, dass sie jemand erfährt. Und vielleicht, überlege ich, aus gutem Grund? Vielleicht muss man seinen Wunsch so akzeptieren? Manches sollte vielleicht nicht ans Licht kommen. Ich wende mich ein paar Meter in die andere Richtung und bestelle mir eine Eiswaffel im Eiscafé San Marco. Erst nur eine Kugel. Dann erhöhe ich, schmunzelnd, auf drei. Und erlebe ein komisches, aber auch unheimlich schönes Déjà-vu, als ich lächelnd aus der Tür trete. Und ich weiß wieder: Was auch immer Opa für ein Geheimnis hatte. Sein strahlendes, inniges Lachen und das Glitzern in seinen Augen beweisen, dass an dieser Geschichte nichts falsch sein kann.

Ich möchte gerade weitergehen, als die Tür durch einen heraustretenden Besucher aufschwingt und ich einen Blick auf den kleinen Zeitungsstand neben dem Eingang erhasche. Auf der Frontseite einer Ausgabe: „Älteste Bürgerin Lingens feiert 105. Geburtstag“.  Und darunter der Nachname: Köppler. Wie in Engelbert Köppler!

Dreißig Minuten später stehe ich in der Birkenallee vor einem malerischen kleinen Häuschen. Ich betätige die Klingel bei „Hildegard Köppler.“ Kurz darauf höre ich Stimmen im Hintergrund. Dann steht mir ein junger Mann gegenüber. Ich reiche ihm ohne viele Worte ein Bild von Opa mit dem Mann, den ich als Engelbert Köppler identifiziert habe. Und bitte ihn, es bei Hildegard vorzuzeigen. Der Mann ist irritiert. Verständlicherweise. Und verschwindet kurz ins Haus. Die Tür bleibt angelehnt, und ich höre ihn nur wenige Schritte von mir entfernt reden. „Sucht einen Freund ihres Großvaters …. Handwerker bei den Schienen …. Engelbert Köppler… Sie hat dieses Foto mitgebracht…“ Danach - Schweigen. So lange, dass ich mich schon frage, ob sie geistig überhaupt anwesend ist. Mit hundertfünf, wie hoch sind da die Chancen, noch ansprechbar, wach, geistig fit, mit guter Sehst… - und dann steht sie plötzlich vor mir. Und ist so ein kleines, zierliches Persönchen, dass ich sie gar nicht gehört habe. Dicke Tränen kullern ihr das Gesicht herunter. „Mein Engel“, sagt sie. Und fügt schluchzend hinzu: „Und mein Willi.“ Und da weiß ich mit Gewissheit, dass sie die Richtige ist. Denn Opas Namen, Wilhelm, hatte ich gar nicht genannt.

Sie bittet mich ins Haus zu kommen und, begleitet von ihrem ungläubigen Gemurmel – „Es soll wohl noch Wunder geben. So was aber auch!“– nehmen wir an einem kleinen Küchentisch Platz. „Leo, bring doch mal die kleine Schachtel vom Dachboden her“, weist sie den Mann an, der vermutlich ein Pfleger ist. „Die im hintersten Eck` liegt und voller Spinnweben is`.“ In den wenigen Minuten, die wir nun zu zweit in der Küche verbringen, schaut sie mich ununterbrochen an und schaut nur weg, um den Kopf zu schütteln, ihn dann in die Hände zu stützen und schließlich ein glucksendes Lachen auszustoßen.
    Ich weiß nicht recht, was ich sagen soll, und auch, wenn mir das alles ein bisschen komisch vorkommt, ist mir die alte Frau doch auch sympathisch. Die Schachtel sieht der auf Opas Dachboden ganz ähnlich. Und darin kommen ebenfalls unzählige Bilder von den beiden zum Vorschein. Hildegard nimmt eines davon in die Hand und muss wieder lächeln. „So lange`s schon her. Aber`s war so schön!“  Und ich erfahre nun auch, wer all die Jahre hinter der Kamera gestanden hat, als die beiden sich trafen. Hildegard greift in die Schachtel und zieht mit zittrigen Händen einen alten Brief hervor. „Dieser Brief sagt dir alles, was du wissen musst, mein Mädchen.“ Und sie lächelt noch immer, aber da ist ein Ausdruck in ihren Augen, der mich auch unendlich traurig macht. Ich öffne den Brief und lese:

Mein lieber Engel,
so oft haben wir darüber geredet, immer nur halb im Ernst, weil wir beide wussten, dass wir es niemals machen würden. Doch jetzt wird sich alles ändern: Margarethe ist schwanger. Ein Mädchen! Es gibt keine Worte für meine Freude. Du weißt, dass wir schon keine Hoffnung mehr hatten.

Du bist mein bester Freund, seit wir uns damals in Lingen im Deutschen Jungvolk kennengelernt hatten. Der Krieg führte uns zusammen, und zugleich verbot er uns das, was wir uns am meisten wünschten: Ein gemeinsames Leben. Und nach dem Krieg, waren es die Menschen und ihr Gedankengut, was es unmöglich machte.

Ich liebe dich, Engelbert. Und ich liebe Margarethe. Wenn auch anders. Und ich werde meine Tochter lieben. Jetzt muss ich Vater und Ehemann sein. Für uns ist kein Platz in dieser Welt. Für immer in Liebe
Dein Willi

 

    Zurück in Trier fühle ich mich, als wäre ich drei Jahre lang weg gewesen, und nicht nur wenige Tage. Ich sehe meine  Mutter über den Tresen hinweg an. Sie hat die dicken lockigen Haare meiner Oma. Und Opas sanfte Augen. Seine Liebe für das Wort. Und Omas resolute Art.

    „Was denkst du, Liebchen?“, höre ich sie fragen. Und ich überlege, ob ich ihr alles erzählen soll. Von Willi und dem Engel. Und ihrer Liebe in einem Land vor unserer Zeit. Dann denke ich wieder daran, wie ich Opas Erinnerungsschachtel aus der hintersten Ecke hervorgezogen habe. Und antworte etwas Belangloses, während ich meinen Laptop aus der Tasche ziehe. Ein neues Word-Dokument öffne. Ich tippe: „Es geschah in Lingen…“

© Bildrechte liegen bei der Einsenderin / dem Einsender.
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Lisanne Astrid Dornoff

Ich entdeckte schon früh meine Leiden­schaft fürs Schreiben und sammelte nach dem Abitur als freie Redakteurin wert­volle Erfah­rungen. 2023 gewann ich den För­derpreis für Literatur der Stadt Trier. Diesen Sommer habe ich mein Zahn­medizin-Studium abgeschlos­sen und lebe in Berlin.

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