05.07.2025

Noah und Luise

Katja Krumpholz

Luise stand am Küchenfenster ihres alten Bauernhauses und ließ ihren Blick über die Obstwiese schweifen. Heute ragten dort nur noch ein paar alte, knorrige Kirschbäume empor. Schwarze Krähen saßen in den Ästen und hatten die wenigen Kirschen, die die Bäume noch hervorbrachten, längst für sich beansprucht. Das Gras war lange nicht gemäht worden und in den Halmen glitzerte der Morgentau. Die aufgehende Sonne tauchte die Welt in orangerotes Licht. Es war Spätsommer. Schon bald würde der Herbst Einzug halten im Land. Die ersten Vögel würden sich auf ihre Reise in Richtung Süden aufmachen. Wie oft hatte sie sich früher gewünscht, es ihnen gleich zu tun.

Nun stand sie hier, stützte mit der einen Hand ihren altersgeschwächten Körper auf der Arbeitsplatte ab, in der anderen hielt sie die Todesanzeige. Sie war heute Morgen mit der Post gekommen.

Sie brauchte den Namen nicht zu lesen. Auf der Innenseite war ein Bild von ihm abgedruckt. Er hatte diese kleine Narbe unter dem rechten Auge. Auch ohne hätte sie ihn sofort wiedererkannt. Wie gut sie sich erinnern konnte. Täglich waren sie früher in die Kirschbäume geklettert, um sich die süßesten Kirschen von weit oben zu holen. An jenem Tag ist er beim Abstieg an einem Ast hängen geblieben und drohte, hinabzustürzen. Mindestens vier Meter lagen unter ihnen. Sie hatte ihn gerade noch rechtzeitig am Arm gepackt. Er hatte sich das Augenlid eingerissen und Blut tropfte von seinem Gesicht. „Du hast mir das Leben gerettet, Luise“, sagte er und drückte ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange. Damals klopfte ihr Herz wie wild. Ihr erster Kuss. Ausgerechnet von Noah. Sie war in dem Sommer vierzehn Jahre alt gewesen.

Luise dachte gerne an diese Zeit zurück. Sie hatte eine schöne Kindheit, auch wenn ihre Eltern früh ums Leben gekommen waren. Ihr Vater fiel 1939 als junger Soldat im Krieg, ihre Mutter erlag ein Jahr später den Folgen einer schweren Lungenentzündung. So war sie bereits mit vier Jahren eine Vollwaise. Zu dieser Zeit, im Jahr 1940, begann ihr Leben auf dem Hof ihrer Großeltern am Ortsrand von Baccum. Sie hatten Luise vom Twist geholt und bei sich aufgenommen, und hier sollte sie aufwachsen.

Im Dorf gab es viele andere Kinder. Die hübschen Zwillinge Katrin und Lena, Paul, der gegenüberwohnte und immer für einen Lacher sorgte, die vier Heinsen-Geschwister, die man wie die Orgelpfeifen nebeneinander stellen konnte, Torben, der immer seine kleine Schwes­ter Ida im Schlepptau hatte und später, als Luise etwa acht Jahre alt war, kam Noah dazu. Er war ein Jahr älter als sie. Für die Kinder war er so etwas wie ein Exot mit seinen dunklen Locken, seinen tiefbraunen Augen und seiner französischen Mutter, die der Liebe wegen vor vielen Jahren nach Deutschland gekommen war. Er hatte schnell Anschluss und Luise schnell Gefallen an ihm gefunden.

Die Kinder waren den Großteil des Tages zusammen draußen unterwegs. Nach der Schule trafen sie sich am Dorfrand und verschwanden bis zum Abend im Baccumer Wald. Mit den Jahren hatten sie immer ausgefeiltere Hütten gebaut. Viele Materialien sammelten sie im Dorf zusammen. Beim Tischler bekamen sie gebrochene oder verzogene Bretter, der Schmied steuerte hin und wieder ein paar Nägel dazu. Alles, was sie irgendwie gebrauchen konnten, schleppten sie in den Wald. Sie hatten sogar eine Hängebrücke zwischen zwei Baumhäuser gebaut. Nur der Aufzug funktionierte nicht wie geplant. Paul stürzte irgendwann ab und brach sich das Bein. In den folgenden Wochen zogen sie ihn in einem Bollerwagen durch den sandigen Untergrund hinter sich her. Damals wurde niemand ausgeschlossen. Und die Eltern ließen ihnen weitestgehend ihren Freiraum. Nur in die Nähe der Mühle durften sie nicht. Dort waren Kriegsgefangene untergebracht, die tagsüber im Wald arbeiteten. Im Jahr 1945, als der Krieg zu Ende ging, durften sie eine Zeit lang gar nicht raus. Die Partisanen waren auf dem Rückzug und den Deutschen gegenüber nicht freundlich gesinnt. Sie hatten Hunger, drangen in die Häuser ein und nahmen sich, was sie brauchten. Das waren beängstigende Zeiten.

Mit zunehmendem Alter wuchsen die Aufgaben, die jeder zu Hause erledigen musste. Die gemeinsame Zeit verlagerte sich auf den späten Nachmittag und aufs Wochenende. Luise musste ihren Großeltern auf dem Hof zur Hand gehen. Sie hatten als Selbstversorger ein wenig Vieh: zwei Milchkühe, ein Schwein, Kaninchen und Pferde. Letztere spannte ihr Großvater vor den Pflug, um den Kartoffelacker zu bearbeiten. Von Traktoren hielt er nicht viel. Die stanken, machten Krach, waren teuer und schwer zu händeln. Er setzte auf die klassischen Pferdestärken.

Sie hatten auch einen großen Gemüsegarten. Mit dem alten Holzkarren fuhren sie regelmäßig nach Lingen auf den Wochenmarkt und verkauften die Ernteerträge, Milch und ab und an ein Kaninchen. Charlotte, ihre Kaltblutstute, zog den vollen Karren an jedem Markttag früh morgens hin und am späten Nachmittag, wenn es gut gelaufen war, leer wieder zurück. Viele Leute aus der Stadt wussten nicht, wie man selber Gemüse anbaute, wann es Zeit war zu ernten oder wie viel Feuchtigkeit der Boden vertrug. Sie kauften einfach alles, was sie zum Leben brauchten. Das sah im Dorf anders aus. Mit ihren Großeltern führte Luise ein einfaches Leben. Kleidung wurde zum Großteil selber genäht, Socken noch gestopft und nicht gleich durch neue ersetzt. Aber sie hatte nie etwas vermisst, nie Hunger leiden müssen.

1947 war ein besonderes Jahr. Zum ersten Mal seit Kriegsbeginn fand wieder ein Schützenfest in Baccum statt. Alle feierten ausge­lassen. Es gab Buden mit Essen und Trinken, Spiele für die Kinder und einen großen Festumzug mit Musik. Ihr Großvater ritt mit zwei anderen Männern vorweg. Luise winkte ihm stolz zu. Das war ein tolles Fest.

Mit den Jahren interessierten sich die Jugendlichen für andere Dinge, sie waren nur noch selten im Wald. Sie gingen auf Feste im Gasthof Hense oder Brömmelkamp oder trafen sich auf dem Platz zwischen den beiden Kirchen und unterhielten sich, warfen gelegentlich noch die Murmeln auf der sandigen Dorfstraße. Noah und Luise trafen sich nun häufiger zu zweit. Sie mochte ihn, er war fast wie ein Bruder für sie. Aber eben nur fast. Wenn Noah sie zum Abschied in den Arm nahm oder wenn er sie packte, um sie durchzukitzeln, dann kribbelte es in ihrem Bauch. Sie wusste damals nicht, ob er genauso empfand und traute sich nicht, es herauszufinden. Also verbrachten sie die nächsten Jahre als beste Freunde. Sie erzählten sich alles, alberten herum und kletterten in die Kirschbäume auf der Obstwiese.

Ein paar Jahre später, Noah machte inzwischen eine Ausbildung beim hiesigen Tischler, Luise erlernte das Nähhandwerk, spazierten sie nach Feierabend wie so oft durch die Felder zwischen Baccum und Ramsel. Etwas war anders an jenem Tag. Noah lief dicht neben ihr. Ihre Schultern berührten sich. Luises Herz klopfte bis zum Hals. Er musste es bemerkt haben. Er nahm ihre Hand in seine, lächelte sie an und so setzen sie ihren Weg fort. Sie ließen sich viel Zeit und nicht mehr los. Wieder bei ihr zu Hause angekommen, verabschiedeten sie sich am Gartentor. Noah stand vor ihr, nahm auch ihre zweite Hand und schaute ihr tief in die Augen. Lange standen sie so voreinander, bevor er sich langsam ihrem Gesicht näherte. Fragend schaute er sie an und als sie leicht nickte, überwand er die letzten Zentimeter und legte seine Lippen auf ihre. Die Welt musste sich plötzlich schneller gedreht haben, denn ihr wurde ganz schwindelig. Noah, ihr bester Freund, für den sie seit langem schon mehr als Freundschaft empfand, küsste sie. Sanft, zärtlich, irgendwann fordernder und feucht. Luise hatte mit ihren sechzehn Jahren nie zuvor einen Jungen richtig geküsst. Als sie voneinander abließen, schaute sie beschämt zu Boden. Aber Noah hob mit einer Hand ihr Kinn, sodass sie ihn anblicken musste, lächelte sein bezauberndes Lächeln, drückte ihr noch einen flüchtigen Kuss auf den Mund und verabschiedete sich von ihr. „Bis morgen, Luise. Danke für den schönen Abend!“ Lässig ging er fort, drehte sich nach wenigen Schritten noch einmal zu ihr um und zwinkerte ihr zu. Später erzählte er ihr, dass er ebenso nervös gewesen war und Angst hatte, sie mit dem Kuss zu verschrecken. Auch er hatte sich das lange vorher schon gewünscht.

Von jenem Abend an waren Noah und Luise ein Paar. Beinahe jeden Tag trafen sie sich und unternahmen etwas miteinander. Und auch in der Nacht wollten sie am liebsten zusammen sein. Manchmal schlichen sie sich heimlich aus dem Haus und trafen sich am Pferdestall oder gingen zum Wald und kletterten dort in eine der Hütten. Mit Noah erlebte sie vieles zum ersten Mal. Den ersten Kuss, erste Berührungen, den ersten Sex, die erste große Liebe. Zu ihrem siebzehnten Geburtstag schenkte er ihr eine Kette, die er aus Kirschkernen gebastelt hatte. „Für dich, meine Liebste! Alles Gute zum Ge­burtstag!“ Er klang traurig. „Was ist denn?“, fragte sie überrascht. „Du hast mehr verdient, eine richtige Kette mit echten Perlen.“ „Aber Noah, sie ist wunderschön! Und sie kommt von dir. Das macht sie zum schönsten Geschenk, das ich mir wünschen kann.“ „Ich verspreche dir, sobald ich genug Geld verdiene, schenke ich dir eine echte Perlenkette, meine hübsche Luise.“

So war Noah. Immerzu machte er ihr Komplimente und brachte kleine Aufmerksamkeiten mit.

Im folgenden Sommer teilte er ihr mit, dass er für ein paar Wochen mit seiner Mutter nach Frankreich reisen würde. Sein Onkel besaß dort einen Gutshof in der Nähe von Saint Christol auf den Höhen des Plateau d´Albion im Südosten Frankreichs. Das Gut lag in der Hochebene, wo echter Lavendel wuchs. Noah hatte häufig davon erzählt. Er träumte immer davon, eines Tages dorthin auszuwandern. Sein Onkel besaß große Lavendelfelder und lebte gut vom Anbau und Verkauf.

Er würde drei Wochen bleiben. So lange waren sie noch nie getrennt gewesen und Luise verabschiedete ihn in der darauffolgenden Woche mit Tränen in den Augen. Er versprach zu schreiben, sobald er ankam. Aber die Post bräuchte bestimmt sieben Tage von Frankreich nach Deutschland. Obwohl Luise das wusste, schaute sie jeden Tag im Briefkasten nach. Jedes Mal, wenn wieder nichts von Noah dabei war, fühlte sie tiefe Enttäuschung. Am dreizehnten Tag nach Noahs Abreise fand sie endlich den erhofften Brief.

„Liebste Luise,

wie geht es dir? Du fehlst mir sehr. Entschuldige, dass ich nicht eher geschrieben habe. Hier ist alles so überwältigend, und wir sind am Tag viele Stunden in den Lavendelfeldern unterwegs. Wenn du nur hier wärst und den wundervollen Duft wahrnehmen könntest! Es würde dir gefallen. Mein Onkel hat ein großes Anwesen, mehrere Angestellte, viele Pferde und sogar ein Auto. Von hier oben kann man bis ins Tal hinunter gucken. Man sieht wundervolle Sonnenuntergänge und nachts funkeln tausend Sterne am Himmel. Es gibt herrliches Essen, guten Wein, und die Menschen sind unglaublich freundlich. Ich wünschte, du könntest es mit mir gemeinsam erleben.

Du glaubst nicht, weshalb mein Onkel uns zu sich eingeladen hat. Ich habe dir ja erzählt, dass er der einzige Bruder meiner Mutter ist und selber nie geheiratet hat. Er ist im letzten Jahr an einer Muskelschwäche erkrankt, durch die er immer mal wieder für ein paar Tage nicht arbeiten kann. Er bekommt zwar Medikamente, aber der Arzt sagt, auf Dauer wird er nicht mehr in der Lage sein, seine Felder zu bewirtschaften. Deshalb hat er Mama und mich gebeten, zu ihm zu ziehen, wenn es so weit ist. Er hat keine Erben und möchte, dass wir später alles übernehmen. Luise, stell dir das vor! Wir zusammen in Frankreich, auf einem großen Gutshof! Wir hätten ein richtig gutes Leben.

Ich bin gespannt, was du bei meiner Rückkehr dazu sagst. Mein Onkel will mir hier noch alles in Ruhe zeigen. Wir bleiben bis zur Lavendelernte und kommen etwas später nach Hause als geplant. In vier Wochen werden wir uns wiedersehen.

Ich hoffe, du hast auch eine schöne Zeit. Bald sehen wir uns wieder. Ich kann es kaum erwarten, dich wieder in meine Arme zu schließen.

In Liebe, dein Noah“

 

An diesem Tag, so dachte Luise damals, begann das Ende ihres Lebens. Noah war so euphorisch gewesen. Sein Traum sollte bald in Erfüllung gehen. Aber für sie zerplatzte mit dieser Nachricht der Traum von einer gemeinsamen Zukunft. Sie konnte nicht einfach gehen, würde ihre Großeltern nicht zurücklassen. Sie wurde am Hof gebraucht.

Und so stand sie mit gemischten Gefühlen vor dem Haus, als Noah aus Frankreich zurückkam. Sie war ihm nicht böse, sie wusste, dass es eine große Chance für ihn war. Aber sie wusste auch, dass sie nur noch eine begrenzte gemeinsame Zeit haben würden. Umso intensiver genossen sie in den darauffolgenden Wochen jede Minute miteinander. Noah versuchte mehrfach, sie zum Mitkommen zu überreden, verstand aber auch, dass ihr Platz hier in Baccum war.

Indes verschlechterte sich der Zustand seines Onkels rasant, und so kam es, dass Noah noch vor Weihnachten mit seiner Mutter nach Frankreich zog. Als der Tag des Abschieds gekommen war, versprachen sie, sich regelmäßig zu schreiben und ihre Beziehung aufrecht zu erhalten. Insgeheim wussten sie beide, dass es nicht funktionieren würde.

Die ersten Wochen nach dem Abschied waren sehr schwer. Luise fühlte sich leer, vermisste Noah schmerzlich und konnte sich nicht auf ihre Arbeit konzentrieren. Sie schaffte es kaum in die Weihnachtsmesse. Ihre Großeltern trösteten sie, ihre Freunde versuchten sie abzulenken.

Noah und sie schrieben sich anfangs häufig, erzählten sich gegenseitig von ihren Tagen, beteuerten ihre Liebe und wie sehr sie sich vermissten und versprachen, sich irgendwann wiederzusehen. Die Kirschkernkette, die Noah ihr zu ihrem siebzehnten Geburtstag geschenkt hatte, legte sie seither nicht mehr ab. Aber nach und nach wurden die Abstände zwischen den Briefen länger, die Inhalte kürzer. Beide gingen ihrem Leben ohne den anderen nach, und bald kehrte ein neuer Alltag ein.

Es war inzwischen fast ein Jahr vergangen, als ein letzter Brief von Noah bei ihr eintraf:

„Meine liebste Luise,

heute schreibe ich dir mit schwerem Herzen. Lange haben wir uns nicht gesehen, und meine Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft mit dir hier in Frankreich wurde zunehmend geringer, auch wenn ich so gerne daran festhalten wollte.

Ich schreibe dir, um dir mitzuteilen, dass ich eine andere Frau kennengelernt habe. Sie ist Französin und lebt unten im Dorf. Wir kennen uns noch nicht sehr lange und hatten nicht geplant, eine Beziehung zu führen.

Nach einer gemeinsamen Nacht mit ihr vor wenigen Wochen hat sie mir verkündet, dass sie schwanger ist. Luise, sie trägt mein Kind unter ihrem Herzen. Eine unverheiratete schwangere Frau, das wird nicht gern gesehen. Sie würde es sehr schwer haben alleine. Ich muss und ich werde diese Frau heiraten.

Ich hoffe so sehr, du kannst mir irgendwann verzeihen.

In ewig währender Liebe,

dein Noah“

 

Ja, so war Noah. Ein richtiger Ehrenmann.

Luise schreckte aus ihren Erinnerungen auf, als ihr Kater Columbus auf die Arbeitsplatte sprang und ihr mit einem Mauzen zu verstehen gab, dass er Hunger hatte. Die Kirchenglocken läuteten. Es war bereits Mittag. Sie hatte die Zeit völlig vergessen.

Luise war damals irgendwann über Noah hinweggekommen, hatte mit dreißig Jahren selbst geheiratet. Sie und Claas hatten keine Kinder. Sie war zufrieden mit ihrem Leben. Luise war eine genügsame Frau, die stets das Gute in allem sehen konnte. So konnte sie auch nun dankbar an die Vergangenheit zurückdenken.

Nachdem sie Columbus gefüttert hatte, kehrte sie in die Küche zurück und ihr Blick fiel auf das Paket, in dem sich die Todesanzeige befunden hatte. Darin befand sich ein weiteres kleines Päckchen mit einem kurzen Anschreiben:

„Liebe Frau Kramer,

mein Name ist Marie. Ich bin die Tochter von Noah. Mein Vater ist vor wenigen Wochen verstorben. Vor seinem Tod gab er mir dieses in Zeitungspapier verpackte Päckchen mit der Bitte, es Ihnen irgendwann zu schicken. Sie scheinen einen bedeutenden Platz in seinem Leben gehabt zu haben. Nach dem Tod meiner Mutter hat er mir viel aus seiner Zeit in Deutschland und immer wieder von Ihnen erzählt. Ich hoffe, Sie können etwas damit anfangen. Es war ihm sehr wichtig, dass Sie es bekommen.

Freundliche Grüße

Marie Lefort“

 

Behutsam nahm Luise das kleine Päckchen in ihre Hand. Sie entfernte das Packband und wickelte das Zeitungspapier ab. Darin befand sich ein kleines Kästchen, auf dem ein weiterer Brief lag.

„Meine liebste Luise,

wenn du diesen Brief liest, werde ich nicht mehr unter den Lebenden sein. Ich hoffe so sehr, dass es dir im Leben gut ergangen ist. Du sollst wissen, dass ich dich nie vergessen konnte. Immerzu habe ich an unsere gemeinsame Zeit gedacht. Wie ich es dir versprochen habe, habe ich hier ein Geschenk für dich. Längst habe ich es von meinem Lohn kaufen können. Als ich es dir damals schicken wollte, hatte ich Sorge, du seist in einer neuen Beziehung und ich könnte dich damit in Verlegenheit bringen. Ich denke, in unserem Alter geht es nun in Ordnung.

Schließe die Augen, wenn du den Deckel abhebst und atme tief ein, damit du den herrlichen Duft von Lavendel in dich aufnehmen kannst.

In ewig währender Liebe,

dein Noah“

Mit tränenerfüllten Augen legte Luise den Brief zur Seite und nahm das Kästchen in die Hand. Sie schloss beim Öffnen die Augen, wie es Noah gefordert hatte. Tief atmete sie den Duft von Lavendel ein. Den Duft von Noahs neuem Leben. Den Duft, den er ihr damals mit jedem seiner Briefe mitgeschickt hatte. So verharrte sie einige Minuten und war glücklich, Noahs junges Gesicht noch einmal vor sich zu sehen.

Langsam öffnete sie die Augen, atmete noch einmal tief durch und sah eine wunderschöne Kette mit vielen schimmernden, creme­weißen Perlen. Mit zitternden Händen legte sie sie um ihren Hals. Ein wunderbares Gefühl erfüllte ihren Körper, und für kurze Zeit fühlte sie sich zurückversetzt in ihre gemeinsame Jugend mit Noah. Dankbar ließ sie sich auf einem Küchenstuhl nieder und schaute hinaus auf die Obstwiese. Ihr Blick blieb an den alten Kirschbäumen hängen, und sie genehmigte sich noch ein paar Minuten mit ihrer Erinnerung an die alten Zeiten.

© Bildrechte liegen bei der Einsenderin / dem Einsender.
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Katja Krumpholz

Ich bin 45 Jahre alt, verheiratet, habe zwei Söhne und wohne im schönen Ort Baccum. Ich un­terrichte am Franziskusgymnasium in Lingen die Fächer Biologie und Katholische Religion. In meiner Freizeit schreibe ich gelegentlich, bislang jedoch nur für mich.

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