05.07.2025

Zerbrochen

Melanie Uphus

Meine liebe Oma, während du dich in das Reich des Vergessens flüchtest, in die schwere Demenz, bin ich dir so nah wie nie zuvor. All deine unfassbar tragischen Geschichten, die du mir bei meinen un­zäh­ligen Besuchen immer und immer wieder erzählt hast und die mich über so viele Jahre begleitet haben, sind zu einem Teil meines Lebens geworden. Der Wunsch, deine Lebensgeschichte zu erzählen, dir eine Stimme zu geben und dich nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, wird immer größer.

  Aber erst muss ich dich unter fadenscheinigen Vorwänden aus deinem sicheren Zuhause locken. Ich sitze mit dir im Auto und bringe dich nach Thuine in eine Einrichtung für demenziell Erkrankte, in der sich fremde Menschen um dich kümmern werden. Mama und ich können die Wucht dieser Erkrankung nicht mehr bewältigen. Du, die immer wieder alles für uns gegeben hast, wirst nun von uns ab­ge­schoben. Tausende von Abers, die alle eine berechtigte Begrün­dung haben, fallen mir ein. Kein einziges lindert die tiefe Traurigkeit, die wir empfinden, dich deinem Zufluchtsort und deiner sicheren Ein­samkeit zu entreißen. Deine Wut, die du uns in deinem letzten ver­zweifelten Aufbäumen entgegenschleuderst, trifft uns zu Recht. Wir, die Einzigen, die dir geblieben sind, verraten dich. Und wenn es dir bewusst wäre, würdest du zornig und enttäuscht, aber niemals resig­niert zu uns sagen: „Das habe ich nicht verdient, nach all dem, was ich für euch getan habe.“ Und du hättest recht. Selbst­ver­ständlich hättest du recht. Aber wir haben einfach nicht deine Kraft, unser Leben so zu opfern, wie du es getan hast.

Der Schmerz und das Leid, das du in deinem Leben ertragen muss­test, sind unvorstellbar. Immer wieder wurde dein Herz in tausend Stücke gerissen, und immer wieder warst du daran zerbrochen, aber niemals hattest du aufgegeben.

Dabei begann dein Leben in Lingen doch so vielversprechend. Im Sommer 1950, bei einem Fest auf der Wilhelmshöhe, lerntest du Hubert kennen – deine große Liebe. Dieser fröhliche Mann mit seinen lockigen Haaren und seiner rheinischen Frohnatur verdrehte dir den Kopf und trug dich vom ersten Moment an auf Händen. Viel zu früh, kaum ein Jahr später, kam eure Tochter Rosi auf die Welt und kurz darauf folgte Konrad. Eure Pläne waren groß, und ihr glaubtet, dass ihr mit eurer Liebe alles schaffen könntet. Doch, wie so oft im Leben, kam es anders.

Du hast fünf Kindern das Leben geschenkt – und vier wurden dir wieder genommen.

Liebevoll und mit einer immensen Aufopferung brachtest du sie alle durch die generell harten Jahre der 50er und 60er. Besonders deine vier Jungs, denen die Diagnose der Hämophilie A im schwer­sten Grad – der Bluterkrankheit – gestellt wurde, hattest du behütet und gepflegt. Bei dieser heimtückischen Krankheit handelt es sich um eine genetische Blutgerinnungsstörung, die nur bei den männlichen Nachkommen auftritt und dazu führt, dass das Blut nicht nur bei äußerlichen Verletzungen nicht ausreichend gerinnt. Somit hattest du jeden Morgen gebetet (ja, damals glaubtest du noch an einen Gott), dass sie nicht in der Nacht vom boshaften und immer leise um das Haus schleichenden Tod heimgesucht wurden, indem eine stille Blutung diesmal nicht nur die Gelenke, sondern vielleicht ein überlebenswichtiges Organ oder das Gehirn betreffen würde. Jeden Tag hattest du gegen diesen übermächtigen Feind in deinem eigenen Haus gekämpft. Und er war so einfallsreich und niederträchtig und hatte so viele Ge­sichter. Einmal war es ein unscheinbar wirkendes Bonbon, das einem von ihnen die Zunge aufschnitt. Über Wochen musstest du deinen ältesten Sohn in eine Klinik nach Münster geben, wo er alleine um sein Leben kämpfte. Ihr hattet weder die finanziellen Mittel, ihn zu besuchen, noch ein Telefon, um in der Klinik anzurufen und euch nach seinem Gesundheitszustand erkundigen zu können. Jeden Tag warst du mit den anderen Kindern zum Krankenhaus gelaufen und hattest dort die Ärzte gebeten, sie mögen in Münster anrufen und fragen, wie es ihm geht, ob er Fortschritte machte und ob er überhaupt noch lebte. Dabei hattest du die mitleidigen Blicke der Ärzte und Schwestern auf dir gespürt. Du hattest es gehasst, abhängig von ihrer Mildtätigkeit zu sein. Immer schon war es dir zuwider, andere Menschen um einen Gefallen zu bitten. Aber was solltest du denn machen? Es ging doch um das Leben deines Kindes. Da hatte Stolz keinen Platz. Du wusstest genau, dass sie dachten: „Wie kann man denn fünf Kinder bekom­men, wenn vier davon so krank sind?“ Aber als die Diagnose bei deinem ältesten Sohn Konrad gestellt wurde, war er vier Jahre alt, dein zweiter Sohn Holger war zweieinhalb und dein viertes Kind war gerade unterwegs. Schon als er, Udo, noch in deinem Bauch gewesen war, spürtest du, dass er ebenfalls ein Junge werden würde. Ein starker Junge, der Stärkste von allen. Aber auch er würde die Last eines Lebens als Bluter tragen müssen. Nachdem du 1958 mit 26 Jahren dein viertes Kind zur Welt gebracht hattest, bist du von einem Arzt zum anderen gelaufen und hattest versucht, dieses neu angepriesene Medi­ka­ment, die „Anti-Baby-Pille“, zu bekommen. Beschimpft wurdest du, als frivol bezeichnet, und es wurde dir mangelnde Moral bei der Enthaltsamkeit im Eheleben vorgeworfen. Nun warst du schon so vom Schicksal gezeichnet, und dann wurde auch noch deine Ehre mit Füßen getreten. Letztlich erbarmte sich ein Arzt und verschrieb dir dieses Medikament. Er tat es auf die ausdrückliche Bitte eures Haus­arztes, der sich in all den Jahren als guter Vertrauter entwickelt hatte - kannte er doch deine Disziplin im Umgang mit deinen schwer kranken Kindern.

Du warst niemand, der mit dem Schicksal haderte und nahmst die Herausforderung an, drei schwer kranke Kinder durch die harten Jahre zu bringen. Dein Mann Hubert und du, ihr wart jung, ihr hattet den Glauben, dass ihr als Familie alles meistern konntet. Die Hoffnung, das alles irgendwie gut werden würde, hatte euch getragen. Aber deine sonst so unerschöpfliche Kraft schwand. Die Tage wurden anstren­gen­der, seitdem du das neue Medikament nahmst. Du hattest häufig Kopfschmerzen, und dir war übel. Immer wieder musstest du dich übergeben, nahmst deutlich ab, und als du letztlich nur noch 46 Kilo auf die Waage brachtest, stellte sich heraus, dass du das neue Wun­dermedikament nicht vertragen konntest. Durch das häufige Erbre­chen konnte es nicht richtig wirken, und ein fünftes kleines Wesen wuchs bereits unter deinem Herzen heran. Natürlich war es ein kranker Junge. Warum sollte das Schicksal denn aufhören, dir noch mehr aufzubürden? Du konntest es ja tragen. 1959 kam ein kleiner zarter Junge mit einem Notkaiserschnitt auf die Welt. Kurz vor die­sem Eingriff hattest du den Arzt unter Tränen angefleht, doch bitte dafür zu sorgen, dass du keine weiteren Kinder bekommen kannst. Hattest an sein Gewissen als Vater und Mediziner appelliert und ihm erzählt, wie groß deine Angst war, eines deiner Kinder zu verlieren. Hattest ihm gesagt, dass du alles tun würdest, damit sie ein gutes Leben führen können, aber dass du die Bürde weiterer Kinder nicht mehr tragen könntest. Er gab dir keine Antwort, sah dir nur lange in dein tränen­überströmtes Gesicht und anschließend auf deinen hoch­schwan­geren Leib, der nicht mehr als 53 Kilo wog. Als er am nächsten Tag an dein Wochenbett trat, sagte er ohne jegliche Regung in seiner Mimik: „Die Operation ist gut verlaufen.“ Und du wusstest, der kleine Armin war dein letztes Kind.

Ein zarter zerbrechlicher Friede fing an, sich breitzumachen. Du versorgtest deine Kinder und deinen Mann. Ihr durftet aus der schäbigen Baracke an der Waldstraße ausziehen, und es wurde euch ein Haus in Heukampstannen zugeteilt. Die Raten für das Haus waren immens. Um es halten zu können, verzichtetet ihr auf alles, außer auf das Essen für eure Kinder. Ihr wart fleißig, arbeitetet Tag und Nacht, bautet Obst und Gemüse in eurem großen Garten an. Und die kleinen und großen Katastrophen, die euer Schicksal mit sich brachte, lerntet ihr zu meistern. Der Arzt und der Krankenwagen waren viel zu häufige, aber immer wieder lebenswichtige Besucher in eurer Welt.

Durch eine kleine Nachlässigkeit bei der Gartenarbeit, die eine erst unscheinbare Verletzung war und sich dann zu einer lebensbe­droh­lichen Blutvergiftung mit Lungenembolie entwickelte, kämpfte Hubert im Jahr 1960 mit nur 33 Jahren über Wochen um sein Leben. Monatelang lag er in Münster im Krankenhaus, und über lange Zeit war nicht sicher, ob er überleben würde.

Ausgelöst durch den Flügelschlag eines unachtsamen Momentes standest du auf einmal völlig auf dich gestellt vor der Gefahr, alles zu verlieren.

Aber Aufgeben war nie eine Option. Was sollte denn aus deinen liebenswerten und wunderbaren Kindern werden? Du dachtest nicht nach, du handeltest einfach. Doch was heißt dabei „einfach“. Was konntest du? Was war deine Stärke? Du warst nicht dumm, nein, auf keinen Fall. Aber als der Krieg und die damit verbundene Flucht aus Schlesien mit dreizehn Jahren deine Schulausbildung beendete, blieb dir nur, für dein persönliches Überleben zu arbeiten, erst in Fabriken in Schwerin und dann in den Webereien in Lingen und Nordhorn. Aber diese Arbeit ließ sich nicht mit fünf kleinen Kindern vereinbaren. Somit suchtest du dir Anstellungen in den Abend­stunden als Reinigungskraft. Drei an der Zahl. Deine Kinder brachtest du um achtzehn Uhr ins Bett und übergabst die Verantwortung für die zwei Jüngsten an deine mittlerweile achtjährige Tochter Rosi. Den beiden ältesten Jungs drohtest du die Tracht Prügel ihres Lebens an, wenn auch nur ein Funke des Unfugs, der in ihren schelmisch blitzenden Kinderaugen aufloderte, ausbrechen sollte. Konrad, der immer Vernünftige, legte seinen Kopf schief, sah dich schelmisch an und sagte: „Mama, du würdest uns niemals hauen, nicht wahr? Das darfst du gar nicht. Aber du kannst dich trotzdem auf uns verlassen. Immer!“

Und so war es. Jeden einzelnen Tag in der Woche hattest du abends für fünf Stunden das Haus verlassen und warst putzen gegangen. Du hattest dir keine Schwäche, keine Unpässlichkeit zugestanden und dich jeden einzelnen Tag abgerackert. Die Raten für das Haus hattest du bezahlt. Pünktlich. Nie auch nur einen Tag zu spät. Deine Kinder hattest du mit ordentlichen Mahlzeiten versorgt und auch hier nie einen Pfennig Schulden gemacht. Lediglich mit dir selbst warst du zu nachlässig und hattest nicht gut auf dich geachtet. Hattest nur die Reste und ein paar Kartoffeln gegessen.

Was soll ich sagen, du hast es geschafft. Ihr habt es geschafft!

Hubert überlebte. Die Kinder waren nicht verhungert, und das Haus, aus dem ich dich jetzt, über 50 Jahre später, mit einem so fadenscheinigen Vorwand herauslocke, konntet ihr behalten.

Sollte man nun meinen, dass dies das Ende einer tragischen Ge­schichte wäre, täuscht man sich.

Deine Lebensgeschichte ist noch lange nicht erzählt. Und dabei spielt die traumatische Flucht in deiner Kindheit von Schlesien nach Schwerin noch nicht einmal eine Rolle. Eine Flucht, bei der man Hunde auf dich gehetzt und dich in Berlin zum Erschießen an eine Wand gestellt hatte. Bei der aus einem Flugzeug mit Maschinen­ge­wehren auf euren Flüchtlingskonvoi gefeuert wurde. Oder als du ganz allein mit sechzehn Jahren von Schwerin nach Lingen zu deinen Brüdern geflohen warst. Als die Zuhälter am Hamburger Hauptbahnhof dich in ihre schmierigen Finger bekommen hatten und du ihnen nur durch eine glückliche Fügung entkommen konntest. All diese Ge­schichten, die ganze Bücher füllen könnten, wirken jedoch lächerlich gering, wenn man hört, was der niederträchtige Verräter namens Schick­sal noch mit dir vorhatte.

Deine Kinder überlebten die 50er und 60er Jahre, wuchsen zu jungen, ansehnlichen Persönlichkeiten heran. Sie wurden Pubertie­rende, Jugendliche und junge Erwachsene. Sie rebellierten und nabelten sich in einem harten Kampf von dir, einer übermächtigen Mutter, ab.

Ende der 60er Jahre kam das sogenannte „Faktor 8“-Präparat zur Blutgerinnung auf den Markt. Dieses minimierte, bei rechtzeitiger Gabe, das Risiko von schweren Einblutungen in den Gelenken oder inneren Organen. Es war eine enorme Erleichterung für euer Leben.

Der wahre Durchbruch erfolgte dann Anfang der 70er Jahre. Euer engster Vertrauter, euer Hausarzt, der dir bereits mit der Anti­babypille geholfen hatte, überbrachte euch die glückliche Nachricht: Es gab ein Präparat, das auf der Basis des „Faktor 8“ so modifiziert wurde, dass es nun prophylaktisch zur Selbstbehandlung verabreicht werden konnte. Deine Jungs mussten es sich lediglich alle zwei Tage intravenös spritzen, und es wurde eine durchgehende Gerinnung produziert. Ihr konntet es nicht fassen. Sollte nun ein normales Leben möglich sein? Die Jungs waren inzwischen zwischen zwölf und neunzehn Jahren alt und erhielten im wahrsten Sinne des Wortes das Geschenk ihres Lebens. Dennoch haderten sie mit den Dämonen ihrer Vergangenheit. Kämpften mit den Erfahrungen von Drogen (was soll man sagen – es waren halt die 70er), mit Depressionen und mit überstürzten Ehen. Liebäugelten mit dem Risiko und brachten dich damit abermals an den Rand deiner Kräfte. Sie entglitten deiner Kontrolle, und du musstest sie ziehen und ihre eigenen schmerz­haf­ten Erfah­rungen machen lassen. Sie flogen hoch, scheiterten, droh­ten zu zerbrechen und standen wieder auf. Die 70er waren hart für dich, aber im Vergleich zu dem, was noch auf dich und Hubert zukommen würde, ein Spaziergang.

Die 80er Jahre brachten nach dem Contergan-Skandal den größten bisher dagewesenen deutschen Medizinskandal. Es wurde bekannt, dass das vermeintlich glückbringende „Faktor 8“-Präparat nicht der erhoffte lebensspendende Segen war, sondern ein todbringender Fluch. Das Medikament, das euch so vertrauensvoll angepriesen wur­de, war mit Hepatitis C und dem HI-Virus verseucht. Zur Her­stel­lung dieses Medikaments wurden große Mengen Blutspenden be­nötigt – überwiegend aus Amerika. Dort wurde das Blut von Ob­dach­losen und Drogenabhängigen unter ausbeuterischen Bedin­gun­gen für den Preis einer warmen Mahlzeit erworben und wider besseres Wissen zu einem profitablen Medikament verarbeitet. Der Tod, der über all die Jahre um euer Haus geschlichen war, witterte seine Chance und schlug unerbittlich zu. Es war, als wenn er dich am Genick packte, mit unbarmherziger Kraft schüttelte und nicht wieder losließ. Eine Lawine aus seelischem Leid, Elend, Schmerz und schlussendlich dem unvermeidlichen Tod rollte auf euch zu. Deine Jungs erfuhren schon viel früher als du von ihrem Verhängnis. Von der Krankheit, die sich Aids nannte. Ihnen wurde erzählt, dass es bestimmt bald Medikamente geben würde und sie die Hoffnung nicht verlieren und nicht alles glauben dürften, was in der Zeitung geschrieben wurde. Sie versuchten, dich mit ihrem Schweigen und ihrer Distanz zu schützen. Aber du warst ihre Mutter und ahntest, dass das Böse seinen unaufhaltsamen Lauf nahm.

Was soll ich sagen?

Es gab kein Happy End.

Deine vier Söhne wurden dir gestohlen, geraubt, entrissen und starben auf die schrecklichste Weise, die ich mir vorstellen kann. Innerhalb von fünf Jahren musstest du dich nach und nach von ihnen verabschieden. Hast an ihren Betten gesessen, ihre Hände gehalten und ihren Verfall ertragen. Du hattest ihre aufbäumende Wut über das ihnen auferlegte Schicksal aushalten und mit dem eigenen Vorwurf kämpfen müssen, dass du als Überträgerin dieser schrecklichen Krank­heit schuld an ihrem unerträglichen Leid warst. Du hattest die Trau­rigkeit in ihren Augen über ein nicht gelebtes Leben gesehen, ihre unmenschlichen Schmerzen gefühlt und gleichzeitig mit der Scham leben müssen, dass deine Kinder an den Folgen von HIV sterben würden.

Niemand, der nicht die Liebe einer Mutter zu ihren Kindern erlebt hat, kann erahnen, wie sich dieser übermächtige Schmerz angefühlt haben muss. Die Liebe zu einem Kind ist Liebe in seiner tiefsten und reinsten Form und nichts außer dem Tod vermag dieses Band zu zerschneiden. Sie ist nicht wie die Liebe zu deinem Partner, der mit dir auf Augenhöhe und dir ebenbürtig ist. Sie ist mächtiger, bedin­gungsloser und größer als alles andere.

Ihr zerbracht beide. Hubert und du. Unterschiedlich und jeder in seiner eigenen Trauer. Ohne jegliche psychologische Hilfe, ohne Antidepressiva. Jeder einzelne Tag war ein Kampf gegen den Schmerz des Verlustes. Ihr bliebt beieinander, bliebt Partner, Leidensgenossen und versuchtet jeden Tag aufs Neue, Schritt für Schritt zu überleben.

Gute zehn Jahre später wurde dir auch Hubert genommen. Ein Ge­hirntumor fraß sich durch seinen Kopf, und er starb ebenfalls über Mo­na­te, langsam und mit großem Leid. Du konntest es kaum ertra­gen an seinem Bett zu sitzen und seine Hand zu halten. Mit jedem Augenblick brachen die nur langsam heilenden Wunden wieder auf, und die damit verbundenen Schmerzen waren präsenter denn je.

Deine Tochter Rosi blieb dir, und ihr wurde damit die schwere Last auferlegt, nicht nur um ihre Brüder und ihren Vater zu trauern, sondern auch noch deine Wut und Verzweiflung zu ertragen. So oft entlud sich diese über ihr. Aber sie ertrug sie, Tag für Tag.

Jetzt wo du dich fast zwanzig Jahre nach diesen Schicksalsschlägen in die Demenz zurückziehst und winzige Stücke der unbeschwerten und liebenswerten Uschi aus Kindheitstagen wieder sichtbar werden, scheinst du manchmal seelische Erleichterung zu erfahren.

Und nun stehen wir, an diesem heißen Sommertag im August 2020, vor den Türen deines neuen „Zuhauses“ und deine noch immer wunderschönen braunen Augen funkeln mich wütend an. „Was machen wir hier?“, fragst du mich und erahnst in einem lichten Moment mein Vorhaben. „Kaffeetrinken“, sage ich schwach und übergebe dich in die Hände einer liebevollen Pflegerin.

„Verzeih uns!“, flüstere ich und lasse dich los.

Du bist, und wirst es immer bleiben, die Heldin in unserem Leben. Die stärkste und mutigste Frau, die wir uns vorstellen können.

Wir, Mama und ich, lieben dich aus tiefstem Herzen.

 

© Bildrechte liegen bei der Einsenderin / dem Einsender.
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Melanie Uphus

Geboren 1974, lebe ich mit meinem Mann und unserem 21-jährigen Sohn seit jeher in Lingen. Was soll ich sagen: „Es ist einfach schön hier!“ Ausflüge mit dem Hund, soziales Engagement, Zeit mit Freunden und Familie sowie Reisen zählen zu meinen größten Leidenschaften.

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