05.07.2025
Zwei echte Spinner
Stefanie Stüber
Ich weiß nicht, was in Lingen geschah. Ich kenne Lingen nicht, ich war auch noch nie dort. Ich muss es auch nicht wissen, weil ich es mir ausdenken kann. So macht man das beim Schreiben, man denkt sich was aus. Man kann sich alles ausdenken beim Schreiben. Das ist erlaubt. Sogar erwünscht.
Ich denke mir eine Welt aus, in der Lingen plötzlich nicht mehr existiert.
Mein bester Freund, belesen und klug, ein Bücherwurm, der Trash genauso liebt wie Proust und der so schnell Schach spielen kann wie der Wind, sagt, das sei ambitioniert. Ich weiß nicht, was er damit meint.
In meinem Lingen geschieht nichts. Weil es in meiner Welt Lingen nicht gibt. Es ist nämlich eine Parallelwelt, in der Lingen durch Zufall nicht entstanden ist und in die meine drei Protagonisten von einem Tag auf den anderen hineingeschleudert werden. Jetzt müssen sie sehen, wie sie zurechtkommen.
In der Geschichte geht es um Zufall und Paradoxien. Ich erzähle von verborgenen Variablen und von der Vorstellung, dass es statt einer, viele nicht miteinander interagierende Welten gibt. Ich schreibe auch über Spukgestalten, alte Flüche, das Moor und den Nebel. Und ich erzähle vom Zweifel an der eigenen Wahrnehmung und der Erkenntnis, dass nichts so ist, wie es scheint. Ich schreibe über drei Spinner, die in der Not zusammenfinden, die zusammen grübeln, streiten, lachen, weinen und nicht verzweifeln.
Ich glaube, ich weiß genug über Lingen, auch, wenn ich nie da war. Denn ich habe das Internet. Viele Male habe ich mir Lingen dort angesehen. In Google Maps. Ich denke, es ist richtig, es sich anzusehen, bevor ich es verschwinden lasse. Ich bin mit Street-View oft durch seine Straßen gewandert. Fast tun mir die Füße weh.
Ich berechne Entfernungen, treibe mich auf Tourismusportalen herum und der Stadtseite. Ich studiere Lingens Geschichte, sehe mir die Bilder vom alten, weißen Rathaus am Markt an. Kenne die Namen der Gasthäuser der Umgebung. In meiner Vorstellung sind es schummrige Kneipen mit alten Holztresen, auf denen über die Jahre tausende von Bier- und Schnapsgläsern abgestellt worden sind. Ich lese alte Sagen und Schauergeschichten aus dem Emsland und wandere virtuell durch seine Moore. Fast hätte ich nasse Füße bekommen. Ich beschäftige mich mit Quantenmechanik und Erkenntnistheorie. Ich bin gut vorbereitet. Meine Geschichte wächst, sie wird länger.
Und dann fällt mir etwas auf. Irgendetwas fehlt. Sie bleibt blutleer, eine leblose Konstruktion. Und ich grüble und suche den Fehler. Das Schlimmste ist, dass mir kein passendes Ende einfällt.
So kann das nicht weitergehen. Ich fasse einen Entschluss. Ich werde nach Lingen reisen, diesmal ganz real. Ich brauche Vibes, ich will Atmosphäre. Lingen spüren und atmen, das ist der Plan und weil ich auch einen Berater brauche, frage ich meinen besten Freund.
Morgens um elf hole ich ihn ab. Die A 31 erkläre ich zu meiner Lieblingsautobahn, weil sie schnurgerade verläuft und kaum einer sie benutzt. Während der zweistündigen Fahrt plaudern wir über dies und das. Über gemeinsame Freunde und Bekannte. Wir tauschen die neuesten Gerüchte aus, spekulieren ob X noch mit Y zusammen ist, undsoweiter. Was man sich halt so erzählt. Wir sprechen auch über Politik, aber das ist beängstigend und belastend.
Ich esse eine selbst geschmierte Schnitte mit Ei, als der beste Freund vorschlägt, auch eine Geschichte schreiben zu wollen. Eine über unsere Recherchereise nach Lingen.
Die Idee finde ich großartig, besser als meine eigene. Doch ich habe eine Mission, ich muss schließlich meine Story zu Ende bringen.
Es ist gegen Mittag, als wir von der Autobahn abfahren, mitten in eine Landschaft hinein, die ich mir ganz anders vorgestellt habe. Das hier entspricht nicht dem Emsland in meinem Kopf. In meinem Kopf ist alles weit und flach und ohne Bäume und Sträucher. Mein Emsland sieht aus wie Ostfriesland, dabei weiß ich gar nicht genau, wie Ostfriesland aussieht. Hier aber stehen überall Bäume herum und versperren mir die Sicht. Auch kann ich kein Moor entdecken, und wegen des sonnigen Wetters kann ich mir plötzlich auch keinen Nebel mehr vorstellen, der in meiner Geschichte eine bedeutende Rolle spielt. Alles ist verkehrt.
Unsere Recherchereise habe ich sorgfältig durchgeplant:
- Innenstadt und weißes Rathaus
- Mittagessen in The Fuchs-Supergrill
- Damaschke
- Ems
- Umgebung.
Man muss den Plan nicht verstehen.
Nach einem kurzen Spaziergang durch das Zentrum, können wir Punkt 1 abhaken. Das weiße Rathaus steht vor uns, in echt. Es ist viel kleiner als auf den Fotos, die ich gesehen habe. Der Platz ist voll mit Marktständen, an denen Käse, Gemüse und Fisch verkauft werden. Sehr viel Fisch. Vornehmlich in kleinen, gebackenen Stückchen, eine hiesige Spezialität, wie ich vermute. Das riecht gut.
Die Menschen sind auch echt und sehen fröhlich und zufrieden aus. Mit großen Einkaufskörben am Arm schlendern sie über den Platz und essen den Fisch. Wir wollen nur einen Kaffee oder ein Bier.
Trotz der vielen verschiedenen gastronomischen Möglichkeiten, die sich uns bieten, gehen wir wie ferngesteuert auf ein Lokal zu, dass eine zehnseitige Bierkarte hat.
Wir haben es uns nicht ausgesucht, es hat sich uns ausgesucht. Hier gibt es alles. Riegele und Pinkus, Lagerund Weizen, Kellerbier und Porter und Pale Ale, La Trappe und Duvel. Es ist ein Paradies für Leute, die Bier mögen, und damit meine ich nicht Veltins oder Krombacher.
Ich muss an einen Bekannten denken. Er war ein Kenner, ein richtiger Sommelier, und zwar für Bier und einer der freundlichsten Menschen. Warum ich „war“ schreibe? Weil man ihn im letzten Jahr, kurz nach Weihnachten, tot in seiner Wohnung fand. Ganz plötzlich war er weg, so wie das Lingen in meiner Geschichte. Das hat alle, die ihn kannten, sehr traurig gemacht. Vielleicht ist es falsch, Lingen verschwinden zu lassen. Das und vieles andere geht mir durch den Kopf.
Wir sitzen in der sehr sonnigen Sonne und sehen zu, wie unser Bier warm wird. Wir sitzen dort etwa fünfundvierzig Minuten. In dieser Zeit fallen drei Gläser um und zerschellen am Boden. Eines, prall gefüllt mit orangegoldenem Aperol- Spritz, ergießt sich auf die mit einer rosa Jacke befleckte Tischnachbarin. Das zweite ist das Kellerbier, das wir bestellt haben, und dass unserem Kellner vom Tablett kippt, als er sich schwungvoll durch die vollbesetzten Tische windet. Natürlich bekommen wir Ersatz. Nummer drei fällt grundlos vom Tisch gegenüber. Das kann kein Zufall sein. Überall geschehen sie, die seltsamen Dinge, man muss nur die Augen aufmachen und richtig hinsehen.
Wir schlendern durch die Gassen rund um den Marktplatz. Hübsche kleine Häuser haben sie hier, eines gefällt uns besonders. Es heißt „Sieben“. Das ist ein schöner Name. Neben der Tür hängen zwei, kleine, hölzerne Kästen, solche, die für Speisekarten vorgesehen sind, doch sie sind leer. Augenblicklich haben wir Hunger.
Der kommt uns sehr gelegen, denn Punkt 2 im Rechercheplan ist ja das Mittagessen, und das essen wir nicht irgendwo. Wir essen es in The Fuchs -Supergrill. Ich habe das kleine Restaurant in Google Maps entdeckt. Es liegt in dem Stadtviertel, in dem einer meiner Protagonisten wohnt, bevor Lingen verschwindet. Es ist sein Stammlokal, ich habe mir vorgestellt, er wohnt direkt gegenüber. Der Name The Fuchs – Supergrill macht sich auch gut in meiner Geschichte. Füchse sind schlau, sie können bestimmt auch gut grillen.
Der Imbiss liegt nicht wie vermutet in einem ruhigen Wohnviertel, sondern direkt an einer der großen Einfahrtsstraßen der Stadt. Es ist laut und stinkt nach Abgasen. Hier kann auch niemand wohnen, denn gegenüber wohnen schon Obi und ein Möbelhaus. Google Maps hat versagt, und ich muss mir was Neues ausdenken. Das Essen schmeckt trotzdem. Die Fritten sind knusprig und salzig, die Mayonnaise kommt in schicken, silbernen Tuben, und auf den Servietten sitzt der Fuchs. Die Weinschorle, die der beste Freund bestellt, heißt Schlükk.
Namen, immer sind es die Namen, die uns durch unsere Echtzeitreise durch Lingen leiten. So wie „Damaschke“. Ich kann mir nichts darunter vorstellen, aber es klingt sensationell. Ich hätte das Wort nicht erfinden können. Musste ich auch nicht. Offensichtlich handelt es sich um eine Art Stadtteil, benannt nach Adolf Friedrich Ferdinand Damaschke, geboren 1865 in Berlin. Er war Lehrer, aber seine wahre Berufung war die Bodenreform. Das sagt Wikipedia. Bodenreform klingt trocken, ich verstehe nicht, wie man sich dazu berufen fühlen kann. Bodenreform war aber scheinbar auch richtig wichtig. Ich lerne, dass Damaschke einer von den Guten ist, weil er sich für eine gerechte Verteilung von ausreichend Wohnraum eingesetzt hat.
Deshalb heißen heute Städte und Dörfer, Ortsteile, Straßen und Plätze so wie er. Lingen hat ein eigenes Damaschke. Die Stadt, aus der wir kommen, hat kein eigenes Damaschke, das finde ich sehr schade. Bevor wir in dem Stadtteil aber überhaupt ankommen, zeigt uns das Navi ein lebloses Industriegebiet, sogar gleich zweimal.
Während ich im Kreis fahre, liest mir der beste Freund begeistert die Lebensgeschichte eines weiteren Namensgebers einer Lingener Straße vor. Bernd Rosemeyer. Er war ein Rennfahrer. Der beste Freund mag Rennfahrer, auch damit kennt er sich aus. Ich finde Rennfahrer genauso langweilig wie Bodenreform. Außerdem war Rosemeyer nicht von den Guten. Er war bei der SS. Bei einem Rekordversuch überschlug er sich mit 429,491 Stundenkilometern mit seinem Wagen. Das hat er natürlich nicht überlebt. Wahnsinn, wie schnell die damals schon fahren konnten, denke ich, und gleich nochmal denke ich: Wahnsinn, was ich nicht schon gelernt habe in Lingen und über Lingen und über Menschen, die aus Lingen kamen und solche, die hier etwas gemacht haben. Dabei bin ich noch nicht einmal drei Stunden da.
Punkt 4 und 5: Der Ems und der Umgebung können wir nicht aus dem Weg gehen: Sie sind überall. Die Ems ist ein Fluss, der zweimal vorkommt, einmal als Fluss und einmal als Kanal. Das finde ich praktisch, falls mal eines von beidem verschwindet, so wie Lingen in meiner Geschichte. Wenn es Lingen zweimal geben würde, wäre es nicht schlimm gewesen. Aber es gibt Lingen nur einmal und zwar nur einmal auf der ganzen Welt. Ich habe nachgesehen.
Langsam sind wir ein bisschen müde, und ich fahre noch ein bisschen um Lingen herum, bevor es nach Hause geht. Auf dem Rückweg plaudern wir nicht mehr viel, hängen unseren Gedanken nach.
Kurz vor unserer Heimatstadt drängt uns ein Mini von der mittleren Spur, sieht mich nicht im toten Winkel und kommt mir nah. Sehr nah. Im letzten Moment kann ich das Steuer herumreißen und auf die rechte Spur neben mir ausweichen. Wir haben Glück, dort fährt niemand. Es klingt dramatisch, aber vielleicht wäre Lingen das Letzte gewesen, was wir lebend gesehen hätten.
Als ich zu Hause bin, muss ich dringend ausruhen. Ich sitze auf meinem Sofa und denke nach. Was von dem, was wir heute erlebt haben, kann ich für meine Geschichte gebrauchen? Ich finde es nicht heraus und gehe schlafen.
Am nächsten Morgen lösche ich meine alte Geschichte. Ich lösche alles und schreibe eine Neue. Die Zeit drängt. Ich wollte eine Geschichte schreiben über Zufall und Paradoxien. Ich wollte von verborgenen Variablen erzählen und von der Vorstellung, dass es statt einer, viele nicht miteinander in Verbindung stehende Welten gibt. Ich wollte über Spukgestalten, alte Flüche, das Moor und den Nebel schreiben. Und ich wollte vom Zweifel an der eigenen Wahrnehmung und der Erkenntnis erzählen, dass nichts so ist, wie es scheint. Ich wollte über drei ausgedachte Spinner schreiben, die in der Not zusammenfinden, die zusammen grübeln, streiten, lachen, weinen und nicht verzweifeln. Daraus ist nichts geworden.
Stattdessen schreibe ich eine Geschichte über zwei echte Spinner. Zwei, die sich aufmachen in eine entfernte, ihnen unbekannte Stadt - einfach, weil es ihnen Spaß macht. Zwei, die in ihrem Leben schon viel gestritten, viel gelacht und geweint haben, und bisher nur manchmal ein bisschen verzweifelt sind. Ich schreibe eine Geschichte über Freundschaft, übers Autofahren und Google Maps. Ich erzähle vom Zufall und darüber, dass nichts so ist, wie man es sich vorstellt.
Es ist auch eine Geschichte über Namen. Namen, die sich verselbstständigen, lebendig werden und selbst zu einer Geschichte in der Geschichte werden. Die einen scheinbar wahllos von hier nach da führen und nachher wird doch alles zur Fügung. Ich schreibe über ein Lingen, das da ist, ganz in echt und von dieser Welt. Und ich schreibe darüber, was dort geschah, an diesem einen Frühlingstag.

Stefanie Stüber
Geb. 1970 in Heidelberg; Studium Theater-und Literaturwissenschaften; Engagements an Theatern. Ich arbeite heute an der TU Dortmund und schreibe schon immer Geschichten u. a. für Zeitungen. Preise: SpaceNetAward „Der Zustand“; Stadtmarketing Bochum „Momentgeschichten“. Veröffentlichungen in Anthologien.